Die sieben Tugenden der Liebe oder der gläserne Sarkophag

Die sieben Tugenden der Liebe oder der gläserne Sarkophag

Liebe

Ein orientalischer König hatte eine zauberhafte Frau, die er über alles liebte. Immer wenn er Zeit hatte, suchte er ihre Nähe. Eines Tages starb die Frau und ließ den König in großer Trauer zurück. „Nie“, rief er aus, „will ich mich von meinem geliebten jungen Weibe trennen.“ In einem gläsernen Sarkophag bahrte er seine Frau im größten Saal des Palastes auf und stellte sein Bett daneben, um nicht eine Minute von ihr getrennt zu sein.

Es war aber ein heißer Sommer und trotz der Kühle des Palastes ging der Leichnam der Frau langsam in Verwesung über. Ihr holdes Antlitz begann sich zu verfärben und wurde von Tag zu Tag aufgedunsener. Der König in seiner Liebe sah dies nicht. Bald erfüllte der süßliche Geruch der Verwesung den ganzen Raum und keiner der Diener wagte es, auch nur seine Nase hineinzustecken. Der König nahm selber schweren Herzens sein Bett und trug es in den Nachbarraum. Obwohl alle Fenster sperrangelweit offenstanden, kroch der Geruch der Vergänglichkeit ihm nach. Es flohen alle Diener und Freunde.

Dann verlor der König das Bewusstsein. Der Hakim, der Arzt, ließ ihn in den großen Garten des Palastes bringen. Als der König erwachte, strich ein frischer Windhauch über ihn. Der Duft der Rosen umschmeichelte seine Sinne. Es war ihm, als lebte seine große Liebe noch. Nach wenigen Tagen erfüllte den König wieder Leben. Sinnend blickte er in den Blütenkelch einer Rose und plötzlich erinnerte er sich daran, wie schön seine Frau zu Lebzeiten gewesen war. Er brach die Rose, legte sie auf den Sarkophag und befahl seinen Dienern, die Leiche der Erde zu übergeben. (Persische Geschichte)

Liebe

Wenn wir – ganz allgemein – von Liebe sprechen, dann meinen wir meistens nicht so sehr die Liebe als Aktivität, sondern eher als Sehnsucht nach ihr, als etwas, was uns zuteil werden sollte. Wenn wir uns nach Liebe sehnen, dann hauptsächlich danach, von anderen geliebt zu werden …

Wenn wir im Alltag von Liebe sprechen, meinen wir meist die Liebe zu einem Partner, dabei gibt es auch so viele andere Arten von Liebe: Mutter- und Vaterlandsliebe, Tierliebe, Selbstliebe oder die Liebe zur Musik, zur Natur, zu einem Ideal, zu Gott usw.

Wir denken oft, dass Liebe etwas ist, was geschieht, dass es Zufall ist, ob wir jemanden oder etwas finden, was wir lieben können, wofür wir uns im Leben einsetzen können. Ich bin mir da nicht so sicher … Wer weiß, ob wir da nicht aktiv suchen oder uns bewusst entscheiden können. Mit unseren Gedanken formen wir uns ein Bild von der Welt, wir selbst bauen unsere eigene Wirklichkeit.

Liebe ist jedenfalls eine Kunst, die man erlernen kann. Und Lieben ist vor allem eine aktive Tätigkeit, wie Erich Fromm in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ aufzeigt. Ein brasilianisches Sprichwort lautet:

„In der Liebe muss man zweimal geben, bevor man einmal nehmen darf.“

Da also das Lieben eine Tugend ist und eine Kunst obendrein, gibt es einige ganz allgemeine Dinge, die man für das Erlernen jeder Kunst braucht. Egal ob Tischlern, Klavierspielen, den Umgang mit Excel – jede Kunstfertigkeit braucht vier Voraussetzungen:

  1. Disziplin
    Das Wort leitet sich ab vom lat. „discipulus“, was Schüler, Jünger bedeutet. Man soll sich also als Lernenden begreifen, als jemand, der üben muss. Man muss sich in den Dienst der Liebe stellen und beim Lieben-Lernen eine Disziplin entwickeln, die nicht von außen aufgezwungen ist, sondern für die man sich selbst entscheidet.
  2. Konzentration
    Diese ist eng mit der Disziplin verwandt. Konzentration bedeutet, „mit dem eigenen Zentrum sein“, mit sich selbst in Kontakt zu stehen. Erst wenn man sich selbst kennt und liebt, kann man andere lieben. Paradoxerweise ist ja die Fähigkeit, allein (All-eins) sein zu können, die Voraussetzung, andere lieben zu lernen.
  3. Geduld
    Auch diese ist – wie Disziplin und Konzentration – in der modernen beschleunigten Gesellschaft sehr unpopulär. Doch die Liebe ist ein zartes Pflänzchen, sie muss geduldig gegossen, gedüngt und gepflegt werden.
    Liebe 3 (2)
  4. Übung
    Eng mit all den oben genannten Bedingungen für das Erwerben einer Kunstfertigkeit hängt natürlich die Übung zusammen. So wie man für das Klavierspielen zuerst Tonleitern üben muss, für das Bogenschießen zuerst Atemübungen vollzieht, brauchen wir für die Kunst des Liebens die regelmäßige (Aus)Übung von Disziplin, Konzentration und Geduld.Neben diesen für alle Künste wichtigen Tugenden sind die folgenden drei Bedingungen besonders für das Liebenlernen notwendig:
  5. Überwinden des Narzissmus
    Nur so kann man sich dem anderen wirklich zuwenden. So lernen wir außerdem, den anderen so wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist und nicht, wie wir ihn oder sie sehen wollen. Wir müssen Objektivität, Demut und Vernunft entwickeln. Liebe ist keine rein emotionale Sache!
  6. Glaube
    Ganz besonders wichtig ist der Glaube an den/die anderen. Hier ist kein irrationaler Glaube gemeint, der sich einer Autorität blind unterwirft, sondern ein tiefer Glaube an den anderen. Man hält den andern hoch – ohne naiv zu sein – und ist überzeugt, dass er in seiner Grundhaltung, im Kern seiner Persönlichkeit, in seiner Liebe zuverlässig, treu und gut ist. Und man glaubt mit ganzen Herzen an seine Möglichkeiten und latenten Potenziale, sich weiterzuentwickeln.
  7. Mut
    Doch dieser tiefe Glaube erfordert Mut. Man muss ein Risiko eingehen können, gerade in der Liebe ist nichts wirklich sicher. Man braucht die Bereitschaft, Schmerz, Enttäuschung, Unsicherheit hinzunehmen. Khalil Gibran schreibt:

„Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.“

Was meinst du? Kann man das Lieben erlernen? Welche Erfahrungen hast du mit diesen Tugenden? Wir freuen uns über deinen Kommentar!

 

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