Lebenskunst und das Streiten – wie geht das?

Lebenskunst und das Streiten – wie geht das?

Philosophieren ist lebenslanges Ringen. Um Erkenntnis. Diese entsteht durch Reibung. Und so kreuzen tibetische Mönche in heftigen Streitgesprächen die Klingen ihres Geistes. Denn ein Widerpart macht uns weiser. Wie aber kann man RICHTIG streiten, und das Streiten zur Lebenskunst machen?

Gemeinsame Wahrheitssuche

In der platonischen Akademie wurde dies durch Dialektische Übungen gelernt. Dabei wurde eine These aufgestellt und ein Schüler hatte die Aufgabe, sie anzugreifen. Ein anderer musste sie verteidigen. Platon wusste, dass solche Diskussionen leicht in ein sophistisches Streitgespräch münden, wo es darum geht, recht zu haben und den Gegner rhetorisch zu besiegen. Aus diesem Grund ist die platonische Dialektik keine rein logische, sondern auch eine geistige Übung. Ziel ist es nicht, dem anderen seine Sichtweise aufzuzwingen, sondern die gemeinsame Wahrheitssuche, bei der man den eigenen Standpunkt verlassen, erhöhen und bereichern kann.

Lebenskunst richtig streiten 2

Das ist richtiges Streiten. Sowohl gedanklich als auch gefühlsmäßig schmoren wir sonst im eigenen Saft. Durch den Austausch mit einem äußeren (Gesprächs)-Partner erhalte ich wertvolle Rückmeldungen und kann meine Sichtweise erweitern. Bei einem Konflikt tritt mir im anderen oft mein eigener „innerer Feind“ entgegen, meine mir unbekannten Persönlichkeitsanteile.

„Was nicht umstritten ist, ist auch nicht sonderlich interessant.“ (J. W. von Goethe)

Vielleicht kennst Du den psychologischen Mechanismus der Projektion des Schattens? Die uns unbewussten, negativen, kleinlichen, intoleranten und egoistischen Gedanken und Gefühle dichten wir den anderen an und bekämpfen sie in ihnen. Wenn wir z.B. durch Verhalten eines anderen Menschen wütend werden, dann können wir davon ausgehen, dass das Thema auch etwas mit mir zu tun hat. Das anzunehmen erfordert Mut und den Willen, an sich zu arbeiten. Wenn ich einige Regeln einhalte, kann das Streiten mit anderen für mich genauso gewinnbringend sein wie für die Platoniker ihre philosophische Debatte: ich lerne unbekannte Seiten in mir kennen und sehe mich glasklar – mit allen Stärken und Schwächen. Hart aber gerecht.

Jede Form von Gewalt ist der tragische Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses

Fundament ist das „positive“ Menschenbild aus der humanistischen Psychologie. Jede schädigende Aktion eines Menschen ist nicht der Ausdruck seines inneren Wesens, sondern die „fehlgeleitete“ Äußerung eines eigentlich positiven Impulses. Jede Form von Gewalt ist der tragische Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses. Grundsätzlich ist der Mensch ein soziales Wesen und möchte in befriedigenden und konstruktiven Beziehungen leben.

„Ein Abend, an dem sich alle Anwesenden einig sind, ist ein verlorener Abend.“
(Albert Einstein)

Der amerikanische Kommunikationspsychologe Marshall B. Rosenberg unterscheidet zwei Arten zwischenmenschlicher Kommunikation, die „Gewaltfreie Kommunikation“ und die „lebensentfremdende Kommunikation“. Zur spielerischen Veranschaulichung wird dies auch als „Giraffensprache“ und „Wolfssprache“ bezeichnet.

Berge kälte streit

In unserem Kulturkreis herrscht die „Wolfssprache“ vor

  • Das (moralische) Urteilen über andere. Dazu gehört das Zuschreiben von Eigenschaften (z.B. „gut/böse“, „gerecht/ungerecht“, „richtig/falsch“), indem man Beobachtungen und Bewertungen vermischt.
  • Diagnostizieren: Analysieren, was der andere braucht: Die Partnerin ist bedürftig und abhängig, wenn sie mehr Zärtlichkeit möchte. Wenn ich mehr Zärtlichkeit möchte, als sie mir gibt, ist sie unsensibel und unnahbar…
  • Das Anstellen von Vergleichen: „Der Kollege/dein Bruder hat damit keine Probleme…“
  • Das Leugnen der Verantwortung für eigene Gefühle und Handlungen, z.B. „Ich habe Kopfschmerzen, weil du immer auf mir herumhackst.“ „Ich fand es auch nicht richtig, aber mein Chef hat darauf bestanden.“ In beiden Fällen stellt man sich als Opfer des anderen dar.
  • Forderungen statt Bitten. Bitten kann man ablehnen, Forderungen nicht so leicht. Wenn man etwas fordert, löst man automatisch Widerstand beim anderen aus. Wenn man bittet, lässt man ihm Wahlfreiheit. „Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“ versus „Könntest du bitte den Geschirrspüler ausräumen?“

Die Giraffensprache – objektiv und mitfühlend

Vertrauen

Rosenberg schlägt vor, dass wir die „Giraffensprache“ anwenden. Die Giraffe hat ein sehr großes Herz und einen langen Hals, wodurch sie immer den Überblick bewahrt und ein erhobenes Bewusstsein einnehmen kann. Von oben betrachtet kann man sein eigenes Handeln objektiver sehen und das Herz lässt einen mit dem anderen mitfühlen. Die vier Schritte sind:

  1. Beobachtung: eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) beschreiben, ohne Bewertung, Interpretation oder Vermutung. Dies ist eine gute Übung der Unterscheidungskraft! Und dabei möglichst neutrale Worte verwenden.
  2. Das Gefühl, das diese Beobachtung in einem selbst auslöst, wahrnehmen und auch aussprechen. Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass durch Spiegelneuronen im anderen die gleichen Gefühle ausgelöst werden – dies ist wohl die Grundlage der Empathie.
  3. Das Bedürfnis, das mit dem Gefühl in Verbindung steht, ansprechen. Jeder Mensch hat bestimmte Bedürfnisse, wie zum Beispiel Sicherheit, Verständnis, Kontakt oder einen Sinn in seinem Leben zu finden. Gefühle sind die „Boten“ unserer Bedürfnisse. Z.B. wenn ich ärgerilch werde, wenn jemand zu spät kommt, ist mein Bedürfnis nach Respekt und Verlässlichkeit nicht erfüllt.
  4. Eine Bitte formulieren. Möglichst konkret und positiv formuliert. Also zu sagen, was man vom anderen möchte, statt auszusprechen, was man nicht will.

frisches grün

Hier ein konkretes Beispiel

„Du bist jetzt 3x hintereinander zu spät gekommen. Das ärgert mich, weil ich mir wünsche, dass du unsere Abmachungen einhältst. Kannst du bitte in Zukunft pünktlich kommen?“ Anstatt: „Du bist rücksichtlos und lässt mich hängen.“

Du findest diese Schritte der „Giraffensprache“ auf den ersten Blick vielleicht künstlich und schwer anwendbar. Über eigene Bedürfnisse und Befindlichkeiten zu sprechen wirkt egozentrisch und selbstbezogen…

Wenn jedoch Bedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt werden, entstehen Frustrationen und Aggressionen. Das merkt man oft lange nicht, bis sich die aufgestaute negative Energie ein Ventil sucht. Wendet sie sich gegen einen selbst, entstehen Krankheiten, Depressionen, Burn-Out, Autoaggressionen, Süchte… Oder sie zeigt sich nach außen durch aggressives und gewalttätiges Verhalten. Bedürfnisse können nicht immer erfüllt werden, denn auch die anderen haben welche… Man muss sie also zurückstecken können oder mit dem anderen einen Kompromiss aushandeln.

„Streit fördert die Erkenntnis, und das ist viel wert.“ (Daniel Liebeskind)

Du kannst die „Giraffensprache“ anhand dieser einfachen Einleitung gerne ausprobieren. Schreibe uns über deine Erfahrungen!

 

 

Eine Antwort

  1. Gabi Ploll sagt:

    Liebe Gudrun,
    so schön, von dir zu lesen.
    ich wünsch dir ein gesegnetes Weihnachts – Lichtfest
    herzliche Umarmung,
    Gabi Ploll

Schreibe einen Kommentar