Über das Leben

Über das Leben

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Die wahre Lebenskunst besteht darin, den Grundbedürfnissen des höheren Selbst genauso Rechnung zu tragen wie denen des physischen Körpers. Gleichzeitig sollten wir lernen, unabänderliche Dinge im Leben zu akzeptieren.

 Leben hat mehrere Bedeutungen: In quantitativer und zeitlicher Hinsicht geht es um die Dauer unserer Existenz. Aber unser Leben hat auch eine qualitative Dimension, eine Tiefe, die von dem Bewußtsein des einzelnen abhängt. Auch darüber haben sich die Menschen seit den Anfängen Gedanken gemacht. Für die Wissenschaft äußert sich das Leben durch biologische Funktionen, die erfüllt werden müssen, wie z.B. Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Regenerierung usw. Nur wenn diese Kriterien erfüllt sind, spricht man im wissenschaftlichen Sinne von Leben.
Für die Alten gab es nichts, das nicht gelebt hätte. Das Universum ist belebt, Leben ist in den Sternen, Mineralien, in allen manifestierten Dingen. Leben ist Schwingung und Entwicklung.
Der Mensch trägt eine zweifache Art des Lebens in sich. Das kann man auch aus den Schöpfungsmythen  der verschiedensten Kulturen entnehmen. Einerseits wird der Mensch als biologisches Lebewesen erschaffen. Er hat Grundbedürfnisse, die befriedigt werden müssen, Bedürfnisse, die denen der Tiere ähneln. Das ist der irdische, materielle, vergängliche Teil des Menschen. Der andere Teil des Menschen ist geistiger Art. Es ist der göttliche Funken, die Fähigkeit der Erkenntnis, das höhere Bewußtsein. Jenes Leben im Menschen, das von Gott stammt. In der griechischen Mythologie wird es als Feuer geschildert, das Prometheus vom Olymp raubt, um es den Menschen zu übergeben. In östlichen Überlieferungen wird von Lichtbringern oder Kumaras erzählt, die den Menschen geistig befruchten.

Menschliches Leben im besten Sinne des Wortes kann also nur stattfinden, wenn beide Teile aktiv sind. Der Mensch hat einen unsterblichen göttlichen Funken, den es zu verwirklichen gilt. Die wahre Kunst zu leben besteht darin, die beiden Teile im Menschen miteinander in Harmonie zu bringen. Da der geistig-göttliche Teil meist nicht so vehement nach seinen Rechten verlangt wie der irdische Teil, müssen wir viel aufmerksamer auf dessen Bedürfnisse sein und unseren physischen Körper schon ab und zu in die Schranken weisen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch den geistigen Funken. Also muß sich auch sein Lebensinhalt von dem des Tieres unterscheiden und kann nicht nur aus Essen, Trinken, Schlafen, Sex und anderen Befriedigungen bestehen!

Die Kunst der Lebensführung besteht darin, seinem Leben in quantitativer wie qualitativer Hinsicht mehr Tiefe zu verleihen. Wir müssen die einzelnen Alltage aufwerten, aktiv gestalten – also die Quantität des Lebens ausschöpfen.

Die Lebenskurve

Lebenskurve Philosophie

Wir können keine Betrachtungen über das Leben anstellen, ohne den Tod miteinzubeziehen. Leben und Tod sind untrennbar miteinander verbunden. Das eine bedingt das andere. Wer den Tod nicht akzeptiert, dem wird sich das Leben in seiner Fülle nicht erschließen. Nicht-Sterben-Wollen bedeutet Nicht-Leben-Können.

Der Lebensablauf läßt sich graphisch mit der Flugbahn eines Geschosses vergleichen. Zuerst steigt es auf, erreicht einen Zenit und fällt ab, bis die ursprüngliche Ruhelage wieder erreicht ist.

Auch im Menschenleben vollzieht sich diese Kurve: Das Kind wächst heran, wird zum Jugendlichen und Erwachsenen. In der Lebensmitte vollzieht sich ein Wandel, eine Umkehr: Die Lebenskurve steigt nicht mehr an, sondern fällt langsam ab, bis das Leben mit dem Tod endet. Das Leben ist ein energetischer Ablauf wie jeder andere, sein Ziel ist es, die Ausgangssituation wiederherzustellen.

Endet das Leben des Menschen mit dem Tod, hat er sein Ziel erreicht, das Leben hat sich erfüllt. Während das Ziel der ersten Lebenshälfte bis zur Lebenswende die Reife und Entfaltung ist, läuft die zweite Lebenshälfte auf das Ende des Lebens, den Tod, hinaus.

C.G. Jung, aus dessen Aufsätzen einige dieser Gedanken zur Lebenskurve stammen, sagt, daß der Mensch von heute nicht im Einklang mit seiner biologischen Lebenskurve lebt. Meist wehrt sich der Heranwachsende gegen die Reife, er bleibt psychisch zurück, möchte die Kindheit verlängern und gelangt dann verspätet am Gipfel an. Dort möchte er sich am liebsten zur Ruhe setzen, merkt aber, daß es unweigerlich bergab geht. Man klammert sich am Zenit an und versucht mit Gewalt, nicht alt zu werden. Die biologische Lebenskurve aber steigt unweigerlich abwärts, das Bewußtsein hängt in der Luft, biologisches und psychisches Leben klaffen immer weiter auseinander. Zuerst fürchtete man sich vor dem Leben, jetzt vor dem Tod. Man erkennt, daß man sich aus Furcht vor dem Leben beim Aufstieg verspätet hat, erhebt aber jetzt umso größeren Anspruch auf die erreichte Höhe. Altern ist unpopulär.

Die Antwort der Religionen

Religionen Philosophie

Wir lernen richtiges Altern und richtiges Sterben nicht. Es gibt leider zu wenige Schulen dafür. Jung sagt, daß uns die alten Kulturen in diesem Zusammenhang sehr viel voraus haben, denn er meint, daß die Mehrzahl aller Religionen nichts anderes sind als komplexe Vorbereitungen auf den Tod. Wir müssen uns auf den Tod genausolange vorbereiten wie auf das Leben! Seneca, der römische Philosoph und Stoiker, sagt: „Leben aber muß man das ganze Leben hindurch lernen, und worüber du dich vielleicht noch mehr verwundern wirst: auch sterben muß man das ganze Leben lernen.“

Obwohl Gott sei Dank schon ein Umdenkungsprozeß im Gange ist, glauben die meisten Menschen heute noch – und die Wissenschaft lehrt es -, daß Religionen konstruierte Systeme mit Dogmen und Göttern sind, die irgendjemand erfunden hätte.

Religion leitet sich ab vom Stammwort re-ligare, was soviel heißt wie wiederverbinden, rückverbinden. Wir haben oben schon gesehen, daß der Mensch in sich einen göttlichen Funken trägt, den es zu verwirklichen gilt. Dieser göttliche Funke ist es, der sich wieder mit Gott vereinigen möchte. Und die Religionen der Alten – egal welche Mythen sie erzählten und wie die Götter hießen – stellten die Brücke zwischen Menschen und der göttlichen und ewigen Welt dar. Die Alten wußten auch, daß die Psyche einer raum- und zeitlosen Seinsform teilhaftig ist, daß es also ein Weiterleben nach dem Tod gibt, die Seele unsterblich ist und dem angehört, was als Ewigkeit bezeichnet wird. Dieser Glaube bzw. dieses Wissen ist als Überzeugung seit unvordenklicher Zeit vorhanden und universal verbreitet. Jung sagt, wer – aus welchen Gründen auch immer – die Aussagen dieses Consensus gentium (übereinstimmende Auffassung der Völker) ablehnt, „hat die statistisch sehr geringe Wahrscheinlichkeit, ein Pionier des Geistes zu werden, daneben aber die unzweifelhafte Sicherheit, in Widerspruch mit Wahrheiten seines Blutes zu geraten. Sind dies auch keine »absoluten« Wahrheiten, so hat es doch Folgen, wenn wir uns über sie hinwegsetzen: Entwurzelung, Desorientierung, Sinnlosigkeit oder andere Minderwertigkeitssymptome. Das Abgleiten von Wahrheiten des Blutes erzeugt neurotische Ratlosigkeit und Sinnlosigkeit. Und die Sinnlosigkeit des Lebens ist ein seelisches Leiden, das unsere Zeit noch nicht in seinem ganzen Umfang und in seiner Tragweite erfaßt hat.“

Mit diesen Worten hat Jung die Problematik der Sinnentleertheit des Lebens deutlich aufgezeigt und dadurch auch ein Plädoyer für das Religiöse an sich gemacht. Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, Religion mit den sogenannten Kirchen oder anderen Institutionen zu verwechseln, die den suchenden Menschen sehr oft keine Antworten geben. Religion ist die Suche des Menschen nach einer Verbindung zu oder Beziehung mit dem Göttlichen, dem Ewigen, Absoluten…  Es ist die Forderung, die die unsterbliche Ebene im Menschen stellt, die Sehnsucht nach dem Ewigen, der Ewigkeitsinstinkt. Der Mensch fühlt sich unweigerlich vom Transzendenten angezogen: Er wird nach oben gezogen. Und dem Grundbedürfnis des höheren Selbst muß genauso Rechnung getragen werden wie denen des physischen Körpers, erst dann widerfährt dem ganzen Menschen Gerechtigkeit, erst dann wird sein Leben zu einem Gesamtkunstwerk.

Die stoische Lebenskunst  der Schicksalsbejahung

Stoische Lebenskunst Philosophie

Wenn man sich der Kunst der Lebensführung widmet, kommt man nicht umhin, sich mit den bis heute unübertroffenen Stoikern zu beschäftigen. Ihre Lebensweisheit ist zweitausend Jahre alt und so aktuell wie damals. Die heute bekanntesten Vertreter des Stoizismus, Seneca, Epiktet und Marc Aurel, lebten um die Zeitenwende in Rom. Alle hatten ein durchaus schwieriges persönliches Leben zu führen, das von zahlreichen Schicksalsschlägen gekennzeichnet war. Umso bewundernswerter ist die unbedingte Schicksalsbejahung und die absolute Akzeptanz der Lebensprüfungen, die in all ihren Werken zum Ausdruck kommt. Sie haben das, was sie lehrten, durch ihr Leben bewiesen. Und so kann man die Widmung, die dem Begründer des Stoizismus von den Athenern auf den Sockel seines Denkmals geschrieben worden war, auch auf die letzten Vertreter des Stoizismus übertragen: „Sein Leben war seiner Lehre vollkommen gleich.“ Sie alle entsprachen dem klassischen Ideal, das von einem Philosophen verlangte, Denken, Reden und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Und so kann man ihre Werke mit der Gewißheit lesen, daß alle Aussprüche praktizierbar sind und daß die Verfasser ganz genau wußten, wovon sie sprachen.

Das Kernstück ihrer Lehre ist auf die Bewältigung konkreter Aufgaben des praktischen Alltags gerichtet. In diesem Zusammenhang muß man zwei Begriffe erläutern: Das Ziel der stoischen Lebenshaltung war ataraxis – Unerschütterlichkeit, Seelenruhe. Dieses Ziel wurde erreicht durch apathía – Leidenschaftslosigkeit. Es geht darum, in allen Lebenslagen und angesichts aller Ereignisse ruhig zu bleiben, sich weder von übergroßer Freude noch von Schmerz oder Trauer übermannen zu lassen. Die Voraussetzungen dafür liegen in der Schicksalsbejahung. Und zu dieser Schicksalsbejahung kamen die Stoiker, weil sie der tiefen Überzeugung waren, daß alles sinnvoll ist, ein Ziel hat, in eine Finalität mündet. Sie waren von der Existenz eines göttlichen Prinzips überzeugt und davon, daß das Leben einen Sinn hat. Um diesen Sinn zu erkennen, hat das Schicksal bestimmte Prüfungen für uns vorgesehen. So stammt alles, was sich zuträgt, aus dem Gesetz der Notwendigkeit. Und mit diesem Hintergrund kann man auch die Ideale der Unerschütterlichkeit und der Leidenschaftslosigkeit verstehen. Da geschieht, was geschehen muß, ist es müßig, sich dagegen zu wehren. Es handelt sich also darum, sich mit Optimismus den Lektionen des Lebens zu stellen. Man könnte es auch „positives Denken“ nennen.  „Frisch gewagt ist halb gewonnen.“ Die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind, und mit einem Lächeln auf den Lippen und Zuversicht im Herzen lebt es sich besser. Diese Haltung ist jedoch nicht im geringsten ein Freibrief zum passiven Laissez-faire.

Krisen aktiv bewältigen

Krisen Philosophie

Für uns ist es sehr schwierig, angesichts etwaiger Schicksalsschläge oder Probleme ruhig und unerschütterlich zu bleiben. Um Krisensituationen (crisis bedeutet nichts anderes als Wende) richtig begegnen und sie auch sinnvoll bewältigen zu können, muß man innerlich sehr aktiv sein. Zuerst ist es unbedingt notwendig, in sich selbst ein Zentrum der Ruhe zu schaffen. Vielleicht kann man sich vorstellen, daß man in seinem Inneren einen kleinen Raum hat, einen sehr intimen Bereich, zu dem niemand außer uns selbst Zutritt hat. Es ist dies ein Ort, in dem man wirklich zu Hause ist, wo man sich geborgen und sicher fühlt, egal was passiert. Wird man dann von den Ereignissen des Lebens überwältigt, gibt es Sorgen und Probleme, denen man sich nicht gewachsen fühlt, steckt man im Strudel der Schwierigkeiten, dann kann man sich in diesen Raum flüchten, und indem man die Türe hinter sich zuzieht, merkt man, wie das Chaos, das Getöse und der Lärm der Außenwelt plötzlich abreißen. Statt dessen ist es hier ruhig, friedlich und sicher.

Natürlich kann man nicht immer an diesem Zufluchtsort bleiben, aber um zur Besinnung zu kommen und die Lage zu überdenken, muß man sich erst einmal distanzieren. In uns gibt es eine Instanz, die von den äußeren Ereignissen unberührt bleibt. Mit dieser Instanz muß man sich in Verbindung setzen und identifizieren. Hat man einmal die Fähigkeit erlangt, sich abzugrenzen, hat man apathía erlangt. Man hat sich von dem befreit, was Leiden schafft – man ist also leidenschaftslos geworden. Das ist kein passives Verdrängen, sondern ganz im Gegenteil, Schwerarbeit. In dem Frieden des Innenraumes kann man dann versuchen, Herr der Lage zu werden, seine Seelenruhe wieder herzustellen, also ataraxís erlangen. Und wenn dann das innere Gleichgewicht wiederhergestellt ist, kann man sich an die Bewältigung und Bearbeitung des Schicksalsschlages oder des Problems machen. Das ist ganz und gar nicht einfach, sondern es handelt sich um eine Kunst, und um diese zu lernen, sind ja Disziplin, Konzentration, Geduld und Übung notwendig. Außerdem muß man den unbedingten Wunsch und das große Interesse haben, Krisen selbständig aktiv zu bewältigen und nicht die Verantwortung abzuwälzen oder sich dem Weinen und Klagen hinzugeben. Natürlich gibt es immer wieder Dinge, die uns zustoßen und gegen die wir nichts unternehmen können, sondern mit denen wir uns einfach abfinden müssen.

Das Unabänderliche akzeptieren

Akzeptieren Philosophie

Epiktet unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen den Dingen, die in unserer Gewalt stehen und denen, die nicht in unserer Gewalt stehen. Das, was in unserer Gewalt steht, können und sollen wir ändern. Was nicht in unserer Gewalt steht, können wir nicht ändern, und wir sollten zu uns selbst sagen: Es geht mich nichts an! Es bringt nichts, wenn wir unsere Energie verschwenden, indem wir uns über Dinge ärgern, die wir nicht ändern können. Man muß einen Teil seiner Kräfte konstruktiv und sinnvoll zur Akzeptierung unabänderlicher Situationen einsetzen. Dies ist dann keine äußere Arbeit, sondern ein innerer Reifungsprozeß.

An einer anderen Stelle sagt Epiktet Folgendes: „Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, daß alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben.“

Weiter erklärt Epiktetus, daß wir das Leben wie ein Spiel betrachten sollen: „Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen steht nicht bei dir.“

Was wir lernen müssen, ist, jene Talente und Fähigkeiten, die wir vom Schicksal mitbekommen haben, zu erkennen, zu entwickeln und richtig einzusetzen. Jeder muß also seine Rolle finden, die er in der Gesellschaft spielen kann bzw. soll. Wichtig dabei ist, daß wir nicht mit Gewalt Dinge lernen oder tun wollen, für die wir keinerlei Fähigkeiten haben, sondern daß wir die uns zugewiesene Rolle akzeptieren und leben – ohne jedoch (und dies muß immer betont werden!) seine Eigeninitiative und Kreativität beiseite zu lassen.

Literatur:

  • Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Kröner 1973
  • Epiktet: Handbüchlein der Moral und  Unterredungen, Kröner, 1984
  • C.G. Jung: Grundwerke, Bd. 9: Mensch  und Kultur, Walter 1985
  • Seneca: Vom glückseligen Leben, Kröner 1978

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