Die Furcht vor der Freiheit

Die Furcht vor der Freiheit

Freiheit

Versuch eines Ausbruchs aus unserem Gefängnis

Haben Sie schon einmal Mäuse gefangen? Mit einer Lebendfalle natürlich! Vielleicht haben Sie dabei die gleiche Erfahrung gemacht wie ich. Es gibt die heroischen Kämpfer unter den Mäusen, die ihre Pfoten blutig und wund reiben, um aus dem kleinen Käfig auszubrechen. Und es gibt die apathischen, die still und erstarrt in der Fall hocken. Man muss die Gefangenen dann mindestens drei Kilometer weit transportieren, bevor man sie wieder freilässt. Sonst kommen sie wieder zurück.

Aber wenn man die Falle öffnet, gibt es wieder eine Überraschung. Die Heroischen springen aus der Falle: nichts wie weg. Die Apathischen aber bleiben drinnen. Sie wagen nicht den Schritt hinaus. Man muss sie regelrecht rausschütteln.

Haben sie Angst vor der Freiheit?

Ihr Verhalten ist jedenfalls seltsam. Doch was allen Mäusen eigen ist: Sie rühren ihren Speck oder Käse, der sie in die Falle gelockt hat, nicht an. Ich glaube, das ist der Unterschied zu uns Menschen. Wir würden erst mal den Käse essen – also ich zumindest. Wenn die Lage auch misslich ist, aber sie hat auch etwas Gutes. Wir Menschen lassen uns daher schon einmal einsperren, wenn wir genug Speck und Klopapier haben.

Es gibt auch andere Experimente. Mit Stubenfliegen zum Beispiel. Hält man sie einige Tage in einem Glas und entfernt man dann den Deckel, so bleiben die Fliegen im Gefäß, als ob es noch immer verschlossen wäre. Nur ganz vereinzelte Exemplare – nennen wir sie Pioniere – wagen aus den bekannten und erlernten Grenzen auszubrechen. Auch von Fischen im Aquarium kennt man dieses Phänomen. Man trennt sie durch Glaswände, damit die Raubfische ihre Opferfische nicht fressen. Mit der Zeit gewöhnen sie sich an die ihnen gesetzten Beschränkungen und bleiben hübsch in ihrem Areal, auch wenn die Trennwände inzwischen entfernt wurden.

Freiheit ist nicht so einfach

Ich will aber noch weiter gehen. Vor vielen Jahren sah ich im Fernsehen einen Film über den Naturforschen Alexander von Humboldt zum Ende des 18. Jahrhunderts. Er wollte afrikanische Sklaven befreien, nahm ihnen ihre Ketten ab, rief ihnen voll Begeisterung zu: „Ihr seid frei!“ Doch diese wussten nicht, was tun, was das für sie bedeutete. So blieben sie regungslos stehen, dort, wo sie waren. Und damals verstand ich: Freiheit ist nicht so einfach.

Sehnsucht Freiheit

Freiheit

Ich glaube, alle Menschen sehnen sich nach Freiheit: nach Unabhängigkeit, Unbeschränktheit, Grenzen und Schwerelosigkeit. Frei sein wie ein Adler am blauen Himmel. Und wohl jedes Kind weiß, dass es in Wahrheit fliegen kann, dass letztlich (fast) alles möglich ist. Doch mit den Jahren verliert sich dieser Glaube, verliert sich dieses pionierhafte und heroische Ich. Wir gewöhnen uns an unsere Grenzen im Inneren wie im Äußeren. Wir werden klein und ohnmächtig, wir unterwerfen uns dem Faktischen. Aber übrig bleibt die Sehnsucht nach Freiheit.

Dass es nun nicht so einfach ist, aus dem Gefängnis wieder auszubrechen, haben wir bereits gesehen. Aber wie sind wir überhaupt in diese Falle geraten?

Die Falle

Als kleines Kind kommen wir in Abhängigkeit von unseren Eltern auf die Welt. Sie geben uns Sicherheit und Verwurzelung und alles, was wir sonst brauchen. Mit zunehmender Entwicklung und Reife lernen wir Schritt für Schritt, für uns selbst einzustehen und damit erobern wir uns im gleichen Maße Freiheit. D.h., wir tauschen Sicherheit und Verwurzelung über die Eltern nun mit dem erworbenen Selbstbewusstsein, der eigenen Wirksamkeit.: Ich weiß, ich kann! Ich habe Sinn, Ideal und Ziel im Leben gefunden, habe neue positive Beziehungen geknüpft und ich habe mir tief im Inneren diesen – wie Viktor Frankl ihn nennt – unzerstörbaren Teil meines Geistes, meiner Seele bewusst gemacht. Ich bin in mir, in der Gesellschaft, in der Natur und in Gott (oder im Spirituellen) verwurzelt.

Individuation ist das Wachstum der Stärke des Selbst.

Erich Fromm

Doch wer kann das heute von sich behaupten? Wir sind – mehr oder weniger – losgelöst von unseren primären Bindungen zu unseren Eltern. Wir fühlen uns einsam, ohnmächtig, in eine kalte und feindliche Welt gespuckt. Wir haben Angst. Denn mit der äußeren Befreiung wuchs nicht das innere Ich gleichzeitig mit. Wir besitzen viel. Und alles, was wir haben, macht noch mehr Angst, da wir es verlieren könnten. Aber wir haben wenig Sein.

Auch im Kollektiven haben wir uns in den letzten Jahrhunderten Freiheit mühsam erkämpft: die Freiheit von traditionellen Bindungen, Ständen und Zünften, von Kirche und Staatsgewalt und wir fühlen uns jetzt ungeschützt und einsam. Nicht von ungefähr suchen wir mit aller Kraft Likes – zumindest über das Internet.

Deshalb haben wir fast alle Angst von der Freiheit. Vor der eigenen Verantwortung, vor Veränderungen, dem Wandel und Herausforderungen, generell vor allem Neuen. Wir lieben das Normale, denn das kennen wir, wenn es auch noch so schrecklich sein kann. Hier spricht man auch von der negativen Seite der Freiheit. Man meint damit die Last, die die Freiheit dem Menschen aufbürden würde. Und so sitzen wir fest in unserer Falle.

Der fehlgeleitete Ausbruch

Flucht

Erich Fromm beschreibt drei Fluchtreaktionen angesichts der Furch vor der Freiheit. Aber wohlgemerkt, sie befreien uns nicht aus unserem Gefängnis, sondern wir verbleiben trotzdem in der Falle:

1. Die Flucht ins Autoritäre

Hier ist sowohl die eigene Macht über andere, in der Familie, am Arbeitsplatz, anonym im Internet auf der einen Seite, und auf der anderen die Unterwürfigkeit gegenüber einer äußeren Macht gemeint. Man glaubt alles, was in den Medien, im Internet gesagt wird, radikale Gruppierungen wirken anziehend, es kommt zu einer ideologischen Radikalisierung in der Gesellschaft.

Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit.

Es gibt aber auch eine subtile Macht, die sog. anonyme Autorität, getarnt als gesunder Menschenverstand, als Normalität oder öffentliche Meinung, vielleicht sogar als Wissenschaft. Sie verlangt von den Menschen nichts als nur „Selbstverständliches“ oder moralische Pflicht.

2. Die Flucht ins Destruktive

zielt nicht auf Macht und Beherrschung, sondern auf Zerstörung. Sie ist das Resultat eines ungelebten Lebens und steht im direkten Verhältnis dazu, wie die Entfaltungsmöglichkeiten im eigenen Leben beschnitten sind. Arbeitslose oder Menschen, die aus sonstigen Gründen nicht arbeiten oder sich irgendwie sinnvoll betätigen können / dürfen, sind dadurch besonders gefährdet.

Ausbruch

3. Die Flucht ins Konformistische

Der Einzelne hört auf, er selbst zu sein. Er wird zu dem, was auch die anderen sind, was man von ihm erwartet. Er fühlt sich wenigstens nicht mehr allein. Aber der Preis dafür ist hoch. Es ist der Verlust des eigenen Selbst. Sie werden sich jetzt vielleicht denken, dass das zu dramatisch ist.

Aber wir können das schon im Alltag erkennen. Wie schwierig ist es, selbst zu denken? Was sind unsere eigenen Gedanken und was kommt aus den Medien, von den Meinungsbildnern (!)? Was plappern wir unreflektiert und unüberprüft einfach nach? Was sind unsere ureigenen Gefühle? Geben wir ihnen Ausdruck? Kennen wir diese überhaupt? Was wollen WIR wirklich? Wer SIND wir wirklich? Wer bin ICH?

Allesamt Fragen, die uns bei einer versuchten Beantwortung in eine richtige Verlegenheit stürzen können.


Der Mensch verkauft nicht nur Waren, er verkauft auch sich selbst und fühlt sich als Ware.


Er braucht eine gute Performance, er muss nur scheinen. Und der Markt ist es, der über den Wert dieser menschlichen Eigenschaften und des Menschen im Einzelnen entscheidet. Und so sind wir zu Konformisten geworden. Aber wir leben in der Illusion, Individuen mit einem eigenen und freien Willen zu sein.

Der wahre Ausbruch

Ausbruch
Freiheit

Was bedeutet das also für uns? Wir müssen wieder lernen zu denken, zu fühlen und zu wollen – unser eigenes Selbst finden. Aber wo hat sich dieses versteckt?

Mit dem „Wir selbst sein“ ist nicht gemeint, die Füße auf den Tisch legen zu dürfen – im Sinne einer billigen Authentizität oder eines zügellosen Egoismus, sondern das Beste, was in uns ist zu suchen, zu finden und zu leben. In meinen Seminaren, die ich gebe, erkenne ich immer wieder, wie schwer es heute den Menschen fällt, spontan und kreativ zu sein. Bevor sie etwas frei und unbeschwert sagen, kommen Erklärungen und Rechtfertigungen, warum sie das so oder so denken oder machen. Aber genau da liegt der Schlüssel: im spontanen Tätigsein, im sich selbst Ausdrücken dürfen und können.

Denn das Selbst ist stark, genau in dem Maße, wie es aktiv-tätig ist.

Genau das macht uns stolz und glücklich, wenn wir etwas selbst schaffen, uns selbst überwinden, über uns hinauswachsen. Wenn wir mit unseren Händen etwas bauen, wenn wir singen oder auf unserem Instrument musizieren. Es wird nicht perfekt sein, aber es stärkt unser Selbst.

Wir brauchen auch große Ideen und Träume in unseren Herzen – wie etwa eine neue und bessere Welt mit glücklicheren Menschen. Tun wir dies nicht konformistisch ab. Wagen wir das Abenteuer und gehören wir zu den heldenhaften Pionieren, die den Weg aus dem Fliegenglas finden – die darum kämpfen, aus unserem selbst gewählten Gefängnis wieder auszubrechen. Auf diesem Weg werden wir auch unser Selbst wiederfinden.

Literaturhinweis:

  • FROMM, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, dtv, 24. Auflage, 2020
  • FROMM, Erich: Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, dtv, 45. Auflage, 2018

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 163 (1/2021) des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.

 

2 Antworten

  1. Katja sagt:

    Ein wunderschöner Text. Vielen Dank.

  2. Nicolas sagt:

    Ist Freiheit denn lernbar? Ich fürchte, die Fähigkeit zum eigenen Selbst ist, so wie Phantasie, eine angeborene Charaktereigenschaft. Man hat sie, oder wird sie niemals haben.
    Ein kleiner Trost: Wer sich genug für das Thema interessiert, um darüber Artikel wie diesen zu lesen, hat diese Fähigkeit höchstwahrscheinlich.

    Ich bin ich, wenn ich etwas tue, das ich mir selber ausgesucht habe.
    Am deutlichsten merke ich das, wenn ich Gruselgeschichten schreibe oder vorlese.

    Aber wir sollen gar nicht wir selber sein. Wer sich selber findet, sucht nicht länger im Gefolge von Autoritäten. Deswegen ist Freiheit unerwünscht, sie schwächt die Mächtigen. Und da sie auch zufrieden macht, schwächt Freiheit den Konsum. Gefällt vielen Investoren gar nicht.

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