Über das Leben
Die wahre Lebenskunst besteht darin, den Grundbedürfnissen des höheren Selbst genauso Rechnung zu tragen wie denen des physischen Körpers. Gleichzeitig sollten wir lernen, unabänderliche Dinge im Leben zu akzeptieren.
Menschliches Leben im besten Sinne des Wortes kann also nur stattfinden, wenn beide Teile aktiv sind. Der Mensch hat einen unsterblichen göttlichen Funken, den es zu verwirklichen gilt. Die wahre Kunst zu leben besteht darin, die beiden Teile im Menschen miteinander in Harmonie zu bringen. Da der geistig-göttliche Teil meist nicht so vehement nach seinen Rechten verlangt wie der irdische Teil, müssen wir viel aufmerksamer auf dessen Bedürfnisse sein und unseren physischen Körper schon ab und zu in die Schranken weisen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch den geistigen Funken. Also muß sich auch sein Lebensinhalt von dem des Tieres unterscheiden und kann nicht nur aus Essen, Trinken, Schlafen, Sex und anderen Befriedigungen bestehen!
Die Kunst der Lebensführung besteht darin, seinem Leben in quantitativer wie qualitativer Hinsicht mehr Tiefe zu verleihen. Wir müssen die einzelnen Alltage aufwerten, aktiv gestalten – also die Quantität des Lebens ausschöpfen.
Die Lebenskurve
Der Lebensablauf läßt sich graphisch mit der Flugbahn eines Geschosses vergleichen. Zuerst steigt es auf, erreicht einen Zenit und fällt ab, bis die ursprüngliche Ruhelage wieder erreicht ist.
Endet das Leben des Menschen mit dem Tod, hat er sein Ziel erreicht, das Leben hat sich erfüllt. Während das Ziel der ersten Lebenshälfte bis zur Lebenswende die Reife und Entfaltung ist, läuft die zweite Lebenshälfte auf das Ende des Lebens, den Tod, hinaus.
C.G. Jung, aus dessen Aufsätzen einige dieser Gedanken zur Lebenskurve stammen, sagt, daß der Mensch von heute nicht im Einklang mit seiner biologischen Lebenskurve lebt. Meist wehrt sich der Heranwachsende gegen die Reife, er bleibt psychisch zurück, möchte die Kindheit verlängern und gelangt dann verspätet am Gipfel an. Dort möchte er sich am liebsten zur Ruhe setzen, merkt aber, daß es unweigerlich bergab geht. Man klammert sich am Zenit an und versucht mit Gewalt, nicht alt zu werden. Die biologische Lebenskurve aber steigt unweigerlich abwärts, das Bewußtsein hängt in der Luft, biologisches und psychisches Leben klaffen immer weiter auseinander. Zuerst fürchtete man sich vor dem Leben, jetzt vor dem Tod. Man erkennt, daß man sich aus Furcht vor dem Leben beim Aufstieg verspätet hat, erhebt aber jetzt umso größeren Anspruch auf die erreichte Höhe. Altern ist unpopulär.
Die Antwort der Religionen
Obwohl Gott sei Dank schon ein Umdenkungsprozeß im Gange ist, glauben die meisten Menschen heute noch – und die Wissenschaft lehrt es -, daß Religionen konstruierte Systeme mit Dogmen und Göttern sind, die irgendjemand erfunden hätte.
Religion leitet sich ab vom Stammwort re-ligare, was soviel heißt wie wiederverbinden, rückverbinden. Wir haben oben schon gesehen, daß der Mensch in sich einen göttlichen Funken trägt, den es zu verwirklichen gilt. Dieser göttliche Funke ist es, der sich wieder mit Gott vereinigen möchte. Und die Religionen der Alten – egal welche Mythen sie erzählten und wie die Götter hießen – stellten die Brücke zwischen Menschen und der göttlichen und ewigen Welt dar. Die Alten wußten auch, daß die Psyche einer raum- und zeitlosen Seinsform teilhaftig ist, daß es also ein Weiterleben nach dem Tod gibt, die Seele unsterblich ist und dem angehört, was als Ewigkeit bezeichnet wird. Dieser Glaube bzw. dieses Wissen ist als Überzeugung seit unvordenklicher Zeit vorhanden und universal verbreitet. Jung sagt, wer – aus welchen Gründen auch immer – die Aussagen dieses Consensus gentium (übereinstimmende Auffassung der Völker) ablehnt, „hat die statistisch sehr geringe Wahrscheinlichkeit, ein Pionier des Geistes zu werden, daneben aber die unzweifelhafte Sicherheit, in Widerspruch mit Wahrheiten seines Blutes zu geraten. Sind dies auch keine »absoluten« Wahrheiten, so hat es doch Folgen, wenn wir uns über sie hinwegsetzen: Entwurzelung, Desorientierung, Sinnlosigkeit oder andere Minderwertigkeitssymptome. Das Abgleiten von Wahrheiten des Blutes erzeugt neurotische Ratlosigkeit und Sinnlosigkeit. Und die Sinnlosigkeit des Lebens ist ein seelisches Leiden, das unsere Zeit noch nicht in seinem ganzen Umfang und in seiner Tragweite erfaßt hat.“
Die stoische Lebenskunst der Schicksalsbejahung
Das Kernstück ihrer Lehre ist auf die Bewältigung konkreter Aufgaben des praktischen Alltags gerichtet. In diesem Zusammenhang muß man zwei Begriffe erläutern: Das Ziel der stoischen Lebenshaltung war ataraxis – Unerschütterlichkeit, Seelenruhe. Dieses Ziel wurde erreicht durch apathía – Leidenschaftslosigkeit. Es geht darum, in allen Lebenslagen und angesichts aller Ereignisse ruhig zu bleiben, sich weder von übergroßer Freude noch von Schmerz oder Trauer übermannen zu lassen. Die Voraussetzungen dafür liegen in der Schicksalsbejahung. Und zu dieser Schicksalsbejahung kamen die Stoiker, weil sie der tiefen Überzeugung waren, daß alles sinnvoll ist, ein Ziel hat, in eine Finalität mündet. Sie waren von der Existenz eines göttlichen Prinzips überzeugt und davon, daß das Leben einen Sinn hat. Um diesen Sinn zu erkennen, hat das Schicksal bestimmte Prüfungen für uns vorgesehen. So stammt alles, was sich zuträgt, aus dem Gesetz der Notwendigkeit. Und mit diesem Hintergrund kann man auch die Ideale der Unerschütterlichkeit und der Leidenschaftslosigkeit verstehen. Da geschieht, was geschehen muß, ist es müßig, sich dagegen zu wehren. Es handelt sich also darum, sich mit Optimismus den Lektionen des Lebens zu stellen. Man könnte es auch „positives Denken“ nennen. „Frisch gewagt ist halb gewonnen.“ Die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind, und mit einem Lächeln auf den Lippen und Zuversicht im Herzen lebt es sich besser. Diese Haltung ist jedoch nicht im geringsten ein Freibrief zum passiven Laissez-faire.
Krisen aktiv bewältigen
Natürlich kann man nicht immer an diesem Zufluchtsort bleiben, aber um zur Besinnung zu kommen und die Lage zu überdenken, muß man sich erst einmal distanzieren. In uns gibt es eine Instanz, die von den äußeren Ereignissen unberührt bleibt. Mit dieser Instanz muß man sich in Verbindung setzen und identifizieren. Hat man einmal die Fähigkeit erlangt, sich abzugrenzen, hat man apathía erlangt. Man hat sich von dem befreit, was Leiden schafft – man ist also leidenschaftslos geworden. Das ist kein passives Verdrängen, sondern ganz im Gegenteil, Schwerarbeit. In dem Frieden des Innenraumes kann man dann versuchen, Herr der Lage zu werden, seine Seelenruhe wieder herzustellen, also ataraxís erlangen. Und wenn dann das innere Gleichgewicht wiederhergestellt ist, kann man sich an die Bewältigung und Bearbeitung des Schicksalsschlages oder des Problems machen. Das ist ganz und gar nicht einfach, sondern es handelt sich um eine Kunst, und um diese zu lernen, sind ja Disziplin, Konzentration, Geduld und Übung notwendig. Außerdem muß man den unbedingten Wunsch und das große Interesse haben, Krisen selbständig aktiv zu bewältigen und nicht die Verantwortung abzuwälzen oder sich dem Weinen und Klagen hinzugeben. Natürlich gibt es immer wieder Dinge, die uns zustoßen und gegen die wir nichts unternehmen können, sondern mit denen wir uns einfach abfinden müssen.
Das Unabänderliche akzeptieren
An einer anderen Stelle sagt Epiktet Folgendes: „Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, daß alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben.“
Weiter erklärt Epiktetus, daß wir das Leben wie ein Spiel betrachten sollen: „Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen steht nicht bei dir.“
Was wir lernen müssen, ist, jene Talente und Fähigkeiten, die wir vom Schicksal mitbekommen haben, zu erkennen, zu entwickeln und richtig einzusetzen. Jeder muß also seine Rolle finden, die er in der Gesellschaft spielen kann bzw. soll. Wichtig dabei ist, daß wir nicht mit Gewalt Dinge lernen oder tun wollen, für die wir keinerlei Fähigkeiten haben, sondern daß wir die uns zugewiesene Rolle akzeptieren und leben – ohne jedoch (und dies muß immer betont werden!) seine Eigeninitiative und Kreativität beiseite zu lassen.
Literatur:
- Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Kröner 1973
- Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Kröner, 1984
- C.G. Jung: Grundwerke, Bd. 9: Mensch und Kultur, Walter 1985
- Seneca: Vom glückseligen Leben, Kröner 1978