Aufrichtigkeit als Lebenskunst
„Aufrichtigkeit“ ist eine psychologische Eigenschaft und eine Tugend. Aufrichtig ist jener, der Denken, Sprechen und Handlung in Übereinstimmung bringt, wie es die alten Griechen von den Philosophen forderten, die durch ihr Verhalten und ihren Lebensstil Vorbild für ihre Lehren sein sollten. Etymologisch ist ein Philosoph der Liebende oder Suchende der Wahrheit und die Aufrichtigkeit ist die Liebe zur Wahrheit und die Achtung vor dieser.
Wer aufrecht ist, steht zu seinen Überzeugungen und verbiegt sich nicht, ist senkrecht wie eine Säule zwischen Himmel und Erde. Dies zeigt sich auch in der Körperhaltung und im freien und offenen Blick, der seinem Gegenüber nicht ausweicht.
Die Aufrichtigkeit war eine der Preußischen Tugenden in der Zeit der Aufklärung, die auf den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und seinen Sohn Friedrich den Großen zurückgingen, die sich als moralisches Vorbild (der Vater) und Vertreter der Vernunft (der Sohn) für ihren multireligiösen und vielsprachigen – nach heutigen Maßstäben multikulturellen – Vielvölkerstaat verstanden.
Aufrichtigkeit – das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit
Die Aufrichtigkeit war aber auch eine der Grundtugenden des Bushido, des Ehrenkodex der Samurai, und hieß Gi (義). Diese Tugend stand in engem Zusammenhang mit Gerechtigkeit, Offenheit und Ehrgefühl.
André Comte-Sponville meint in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“, dass Aufrichtigkeit der beste Begriff sei, um das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit zu beschreiben. Unter den Begriffen Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität schien ihm Aufrichtigkeit am geeignetsten.
Erkennt man einen aufrichtigen Menschen dadurch, dass er immer die Wahrheit sagt? Ja, wenn er sie kennt. Und wenn nicht? Er kann sich irren, aber dann sagt er wenigstens die Wahrheit über das, was er glaubt. Aufrichtigkeit ist mehr als Ehrlichkeit. Denn ehrlich zu sein bedeutet, andere nicht zu belügen und aufrichtig zu sein, darüber hinaus, sich selbst nicht zu belügen. Sich seine Unvollkommenheiten und Unkenntnisse einzugestehen und dazu zu stehen, aber auch seine Stärken und Fähigkeiten. Authentisch und aufrichtig ist, wer den Mut hat, sich selbst anzunehmen, wie er ist und sich auch so nach außen zu zeigen.
Die Aufrichtigkeit ist Herzenssache
Die Aufrichtigkeit ist laut La Rochefoucauld ein Sich-Öffnen des Herzens, das uns zeigt, wie wir sind. Die Ägypter sahen im Herz den Sitz der Seele, das Zentrum des moralischen Handelns. Bei der „Wägung des Herzens“ im Totengericht wird die Feder der Göttin Ma´at, der Göttin der Wahrheit-Gerechtigkeit, in die eine Waagschale geworfen, auf der anderen liegt das Herz, das „so leicht wie eine Feder“ sein muss. Dies ist der Fall, wenn man aufrichtig und wahrhaftig gelebt hat.
Wahrhaftig ist – so Aristoteles – wer die Wahrheit liebt und das Lügen ablehnt. Und weiter: wer das Über- und Untertreiben, das Hinzudichten und Verschweigen unterlässt. Er steht in der Mitte zwischen den Lastern der Prahlerei und Tiefstapelei, zwischen falschem Ruhm und falscher Bescheidenheit.
Wie alle bisher behandelten Tugenden ist auch die Aufrichtigkeit eine Blume im Strauß von Tugenden, die als Gesamtheit und miteinander wirken. Aufrichtigkeit muss gepaart sein mit anderen Tugenden, der Ehrlichkeit, Offenheit und Gerechtigkeit, aber auch mit den zarten Blüten des Mitleids, der Sanftmut und der Barmherzigkeit oder des Zartgefühls.
Jemanden eine Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, der nicht danach gefragt hat oder der sie nicht ertragen kann, das ist nicht aufrichtig, sondern grob, auch wenn Kant forderte, dass man immer und jederzeit die Wahrheit sagen muss, ohne jegliche Ausnahme. Doch das würde z.B. bedeuten, dass ich einem Mörder, dessen unschuldiges Opfer sich in mein Haus geflüchtet hat, eben diesem ausliefere, aus reinem Kult zur Wahrheit. Aber was wäre denn das für eine Tugend, die so auf sich selbst und auf die eigene Unbescholtenheit und Reinheit bedacht ist, dass sie einen Unschuldigen einem Mörder ausliefern würde? Das wäre eine isolierte Tugend, die ohne Klugheit, Gerechtigkeit oder Nächstenliebe ausgeübt würde.
Wahrhaftigkeit kann keine absolute Pflicht sein, es gibt nichts Absolutes und des Menschen Unterscheidungskraft ist immer gefordert. In einer relativen Welt können wir die Verantwortung nicht delegieren an irgendwelche Regeln oder einen immer gültigen Verhaltenskodex. Wir müssen immer individuell und von Situation zu Situation entscheiden.
Die Wahrheit ist wichtiger als die Religion
Als Liebe zur Wahrheit ist die Aufrichtigkeit die philosophische Tugend schlechthin, denn der Philosoph strebt und sucht immer nach der Wahrheit. In diesem Sinne sollte und kann jeder Mensch Philosoph sein. Er stellt die Wahrheit über alles. Manche große Persönlichkeiten der Geschichte haben sie sogar über das eigene Leben gestellt, wie der bis heute verehrte Sokrates. Er hatte sich der Wahrheit und Aufrichtigkeit so sehr verschrieben, dass er – obwohl das Orakel von Delphi ihn als den weisesten Menschen benannt hatte – von sich behauptet: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Spinoza nannte die Suche nach und die Freude an der Erkenntnis Amor Dei intellectualis („die in der Erkenntnis ruhende Liebe zu Gott“), da alles in Gott ist und da Gott alles ist. Das bedeutet, dass die Wahrheit wichtiger ist als die Religion. H.P. Blavatsky, die große Gelehrte des 19. Jh., formulierte den Grundsatz für ihr Kulturen vergleichendes Forschen folgendermaßen:
„Keine Religion steht höher als die Wahrheit.“
Suchen und forschen wir aufrichtig nach der Wahrheit, dies ist Philosophieren in höchster Vollendung. Und beginnen wir bei der Aufrichtigkeit mit uns selbst. Seien wir uns gegenüber ehrlich und wahrhaftig und streben wir in all unseren Äußerungen nach Authentizität – dies ist ehrenvolle und erhabene Menschenpflicht.
Was meinst Du, wie können wir persönlich Aufrichtigkeit leben? Hinterlasse uns einen Kommentar!
2 Antworten
Der Beitrag zum Unterschied zwischen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit hat mir geholfen diese beiden Begriffe besser zu verstehen.
Vielen Dank an die Autorin Frau Gudrun Gutdeutsch.
Ich habe das Wort Aufrichtigkeit „gesucht“ um zu beschreiben, was ich mir von den Personen in einer Gruppe erwarte.
Ich wohne in Italien und bemerke tiefe Kulturelle Unterschiede.
Diese Unterschiede sind nicht an Ländergrenzen festzumachen und sind sicherlich ebensowenig an Zeit gebunden.
Aufrichtigkeit ist sicherlich weltweit eine gute Eigenschaft! Doch nicht überall wird oder vielleicht eher WÜRDE sie so zu einer Tugend erhoben wir in Preußen oder Japan.
Heute wünsche ich mir mehr Aufrichtigkeit vor allem in der Politik (das klingt wie ein Märchen) aber auch in der Zivilbevölkerung im Alltag auf der Straße.