Tugenden und ihre (Wieder)Entdeckung

Tugenden und ihre (Wieder)Entdeckung

Stoische Lebenskunst Philosophie

Eine Urfrage der klassischen Philosophen ist die nach dem „rechten“ Leben.

  • Wann ist ein Leben gelungen?
  • Wie werde ich glücklich?
  • Nach welchen Prinzipien soll ich handeln?

Bei Sokrates, Platon und Aristoteles gelangte die Philosophie des Abendlandes zu höchster Blüte. Sie versuchten, das Wesen des Guten zu ergründen, das eng verbunden war mit dem Wahren und dem Schönen. Sie bemühten sich nicht nur gedanklich um das Gute, Wahre und Schöne, sondern sie lehrten ihre Schüler, diese Ideen auch in ihren Handlungen zu verwirklichen.

Die Glaubwürdigkeit eines Philosophen wurde auf dem Prüfstein seines Lebens gemessen: Denken, Sprechen und Handeln mussten eine Einheit bilden und tugendhaft sein.

Auch für den modernen Menschen sind Tugenden und Werte wieder attraktiv. Sicherlich deshalb, weil man allzu deutlich sieht, wohin sich die Dinge ohne diese Prinzipien entwickeln. Steigende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft, die wachsende Unglaubwürdigkeit von Politik und Medien und das zunehmende Gefühl der Sinnentleertheit lassen die Sehnsucht nach einer allgemein gültigen Ethik und einem individuell glücklichen Leben wachsen.

Tugenden Treffpunkt Philosophie

Glücklich zu werden ist für jeden Menschen erstrebenswert, es ist das Lebensziel schlechthin. Doch das, was den Einzelnen glücklich macht, ist individuell sehr verschieden. Ein Kranker beispielsweise sieht in der Gesundheit sein größtes Glück und ein Armer im Reichtum. Offensichtlich gibt es Glück, das uns vom Schicksal oder durch einen Zufall gesandt wird, deshalb sprechen wir davon, dass jemand „Glück hat“. Diese Form des Glücks steht nicht in unserer Macht und ist von äußeren Umständen abhängig.

Im Gegensatz dazu beschreibt Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik“ (die Sie im Ausbildungskurs „Abenteuer Philosophie“ kennen lernen können) jenes Glück, das allen Menschen als ein Gemeingut offen steht: das Glück, das man durch ethisches Handeln erreichen und durch Lernen und Üben vervollkommnen kann. Es macht deshalb so glücklich, weil es in einer „Tätigkeit der Seele im Sinne ihrer wesenhaften Tüchtigkeit“ besteht, d.h. die in uns schlummernden Potenziale der Tugenden werden aktiviert. Außerdem liegt diese Form des Glücks in unseren eigenen Händen, wir sind hier von äußeren Umständen unabhängig.

Eine Tugend ist – dem etymologischen Wörterbuch zufolge – eine sittlich hervorragende Eigenschaft und eine einwandfreie, vorbildliche Haltung. Im Brockhaus wird Tugend als Bezeichnung für die sittliche Lebenshaltung definiert, die aus Freiheit vom Menschen durch permanente Übung erworben wird und das sittlich Gute erstrebt.

Tugenden

Platon nennt vier Haupttugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Die christlich-mittelalterliche Philosophie ergänzte das überlieferte Tugendsystem, das aus den platonischen Kardinaltugenden und den mitmenschlichen Tugenden wie Nächstenliebe, Hingabe, Wahrhaftigkeit und Treue bestand. Sie fügte die drei „göttlichen“ Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzu.

Wie sehr der Tugendbegriff durch die jeweiligen geschichtlichen Umstände geprägt ist, zeigt sich daran, dass das Bürgertum in der Neuzeit standesbezogene Wertvorstellungen zu Tugenden erhob, wie z.B. Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit.

Und welche Tugenden gelten heute als besonders wichtig? Vor allem Toleranz und Solidarität. Aber auch „altmodische Tugenden“ wie Höflichkeit, Treue, Mäßigung, Großherzigkeit und Demut werden wieder modern! Um das Wesen der Tugenden zu erfassen, können wir die „Nikomachische Ethik“ von Aristoteles zu Rate ziehen.

Er beschreibt die „besonderen Kennzeichen“ folgendermaßen:

Tugenden sind erlernbar 

Der große Philosoph sagt, dass es unserer menschlichen Natur entspricht, die sittlichen Vorzüge aufzunehmen. Durch Gewöhnung können wir uns dann dem vollkommenen Zustand annähern. Dies macht Mut! Die Ausrede „Ich bin einfach jähzornig / faul / ungeduldig“ gilt nicht. Jeder Mensch kann jede Tugend lernen – manche werden ihm aufgrund seines Charakters näher liegen, um andere muss er sich sicherlich mehr bemühen.

Übung macht den Meister!

Tugend Instrument

Die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung ist dem Menschen angeboren. Indem wir sie benützen, verbessern wir sie. Bei Kunst und Handwerk ist es genauso: Baumeister wird man, indem man baut und Kitharakünstler, indem man das Instrument spielt. Ebenso wird man tugendhaft, indem man die Tugenden praktiziert. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.

Die wirklichen Herausforderungen des Menschen liegen im Alltag. In Notsituationen oder unter besonderen Umständen ist es oft leicht, über sich hinauszuwachsen und ungeahnte Potenziale zu aktivieren. Der ganze Organismus ist in Alarmbereitschaft und deshalb sind wir ungeheuer leistungsfähig. Nach der Überanstrengung fallen wir dann in unseren vorherigen Zustand zurück.

Wahres inneres Wachstum hingegen geht sehr langsam. Man benötigt jeden Tag eine kleine Anstrengung, und das ist nicht spektakulär und dramatisch. Es braucht Willenskraft und Bewusstsein. Und genau über diese Fähigkeiten verfügt jeder Mensch!

Das goldene Mittelmaß macht die Tugend aus

Goldene Mitte

Eine Tugend ist die Mitte zwischen zwei Lastern.

  1. Nehmen wir beispielsweise den Mut. Zu viel Mut ist Übermut und Leichtsinn, zu wenig Mut ist Feigheit. Nur wenn man das rechte Maß findet, ist Mut eine Tugend.
  2. Genauso ist es bei der Liebe. Lieben wir z.B. unser Kind überschwänglich und zeigen wir ihm keine klaren Grenzen, verwöhnen wir es. Geben wir zu wenig Liebe, indem wir zu streng sind, verunsichern wir das Kind und es wird nicht selbstbewusst werden.
  3. Als drittes Beispiel mag uns die Freundlichkeit dienen. Den übertrieben Freundlichen nennt Aristoteles liebedienerisch, den übertrieben Unfreundlichen Streithahn und Widerborst.

Die wahre sittliche Tüchtigkeit ist laut Aristoteles die Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind.

Die wahre Tugend geschieht aus freiem Willen 

Das vierte Kennzeichen jeder Tugend ist die Freiwilligkeit. Nur dann kann man von Tugend sprechen. Denn wenn ich hilfsbereit bin, um mir beispielsweise die Zuneigung eines Freundes zu „erkaufen“ oder nur Vorgesetzten gegenüber höflich bin, dann geschieht dies nicht aus freiem Willen, sondern aus Berechnung. Nur wenn ich durch meine Handlung keinen Vorteil erwarte, ist sie wahrlich tugendhaft.

Die Bhagavad Gita der Hindus spricht von der „Rechten Tat“, die keinen Lohn erwartet und bei der man mit Freude das tut, was getan werden muss. Das tugendhafte Handeln als Weg zum Glück – eine wunderbare Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und die inneren Potenziale zum Wachsen und Blühen zu bringen!

Schon eine altägyptische Inschrift besagt:

Folge deinem Herzen, solange du auf Erden weilst, und feiere einen glücklichen Tag.

Ihre Gudrun Gutdeutsch

 

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