Die Rückkehr des Gentleman

Der Gentleman ist ein Wesen der Stadt.
Hier ist der Ort der Gegensätze, hier kann er sich entwickeln, hier kann er verbinden. Ein Gentleman besticht nicht durch städtisch blasierte Accessoires wie Rasierpinsel aus Dachshaar oder die undurchlässige Fassade eines Dandys. Ein Gentleman besticht durch seine bescheidene Haltung oder genauer noch, das Gentleman-Sein beschreibt eine Haltung. Ein „Sein-Lasser“, ein „Zeit-Lasser“, ein „Leben-Lasser“ sein, während er der eigenen Aufgabe konsequent nachgeht.
In der beschleunigten Welt der Stadt ist er nie in Eile und er lässt sich niemals die Zeit stehlen. Denn er hat für sich die Wahl getroffen und sich entschieden, seinen freien Willen mit den Grenzen der Freiheit zu versöhnen.
Ja zum Risiko, nein zum Angenehmen oder zur Panik; ja zu Entwicklung, nein zum Stillstand oder Beschleunigungsdelirium.
Dem Selbstoptimierungswahn einer vielfältig erhältlichen Ratgeberliteratur erteilt er eine deutliche Absage, lässt immer Raum für sich und andere.
In seinem Terminkalender ist immer Platz für Gespräche, Begegnungen und Spontanes.

Jetzt oder schon früher sollte man die Frage stellen:
Kann es so ein perfektes Wesen überhaupt geben, ist es nur ein Wunschtraum? Zugegeben, ich habe noch keinen lupenreinen Gentleman kennengelernt. Doch erlebe ich Männer, in deren Herzen sich die Ideale des Gentlemans eingenistet haben und die einen Weg der Selbstwerdung im Alltag gehen. Und, auch zugegeben, ich würde gerne selbst so eine Person werden.
Platon gibt uns den Hinweis, dass der Weg des Gentleman-Ritters über den Kontakt zur eigenen Seele führt:
„Vom Schönen und Weisen und Guten nähren sich und an diesem wachsen die Flügel der Seele. Am Hässlichen und Bösen welken sie und fallen ab.“
Flügel brauchen nicht nur die Vögel, sondern auch wir Menschen. Nicht, um noch schneller und günstiger in den Urlaub zu kommen, sondern um uns über die Gegensätze unserer Welt zu erheben und Bindungen schmieden zu können.
Also träumen wir und schauen dabei den Menschen in die Augen, den Fenstern der Seele. Entdecken wir ihre wachsenden Flügel, denn den aufgehenden Samen des Gentlemans gibt es. Es gibt ihn in unseren Städten und in unseren Spiegeln.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 155 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.