Gibt es ein Ich im Gehirn?

Gibt es ein Ich im Gehirn?

Ich

Was Bewusstsein im Allgemeinen betrifft, so wisse man mittlerweile, dass es sich dabei um kein „Alles oder Nichts”- Phänomen handelt. Bewusstsein sei vielmehr ein graduelles Phänomen, das bei Tieren unterschiedlich hoch entwickelt ist. Je höher ein Gehirn evolutionär entwickelt ist, umso eher kann es auch Selbstbewusstsein erzeugen. Entscheidend sei, wie umfassend und vielschichtig Wirklichkeit im Gehirn eines Tieres repräsentiert wird. Das Einmalige am menschlichen Bewusstsein ist sein Vermögen, Wirklichkeit so zu repräsentieren, dass es möglich ist, selektiv Aufmerksamkeit auf einzelne Inhalte zu richten, darüber nachzudenken und darüber Begriffe zu bilden.

Das Ich als Netzwerkphänomen?

Ich

Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 1012 Neuronen, wobei jedes Neuron mit ca. 10000-15000 weiteren Neuronen interagiert. Seine Funktionsweise sollte man sich vorstellen wie ein Orchester, das perfekt aufeinander abgestimmt ist, bloß ohne Dirigenten, sagt der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer. Aus dieser Sicht ist Bewusstsein ein gewaltiges neuronales Netzwerkphänomen. Gemeint sind Neuronenverbände bzw. Hirnareale, die schließlich ein „inneres Gesamtbild“ erzeugen. Wie das genau funktioniert ist bis heute ungeklärt. Selbstbewusstsein sei jedenfalls nicht so einfach lokalisierbar, sondern vielmehr das Resultat des Zusammenspiels jener Neuronenverbände, die jeweils ihren Beitrag zum Ich-Gefühl leisten. Richard David Precht zufolge geht die Hirnforschung mittlerweile davon aus, dass es nicht ein Ich, sondern mehrere Ich-Zustände gibt. Diese werden letztlich quasi zu einem einheitlichen Ich-Gefühl vernetzt.

Folgende 8 Ich-Zustände sind dabei entscheidend:

  1. Körper-Ich, sorgt dafür, dass wir den eigenen Körper mit dem Ich-Gefühl verbinden
  2. Verortungs-Ich, sagt mir, wo ich gerade bin
  3. Perspektivisches Ich, suggeriert, dass ich der Mittelpunkt der erlebten Welt bin
  4. Ich als Erlebnissubjekt, sagt mir, dass meine Gefühle wirklich zu mir gehören
  5. Autorschafts- und Kontroll-Ich, suggeriert Verantwortung für eigene Handlungen
  6. Autobiografisches Ich, sorgt dafür, dass ich mich immer als ein und derselbe erlebe
  7. Selbstreflexives Ich, ermöglicht das Nachdenken über sich
  8. Moralisches Ich, entscheidend für Gewissensbildung

Arbeitet ein einzelnes Areal oder mehrere nicht richtig zusammen, so kommt es zu  Krankheitsbildern wie z.B. der Schizophrenie oder dem Cotard-Syndrom. Bei letzterem leugnen Betroffene u. a. im eigenen Körper zu sein, behaupten sogar sie seien bereits tot oder halten es für sinnlos, von einem Ich zu sprechen.

Du bist nicht dein Gehirn …

Ich

… sagt Alva Noë, Philosophieprofessor in Berkeley, Kalifornien. Seiner Ansicht nach fußt die gegenwärtige Erforschung des Bewusstseins auf einem überaus wackeligen philosophischen Fundament. Bewusstsein ist nicht einfach mit Hirnprozessen gleichzusetzen. Dies sei Teil eines längst überholten Reduktionismus. Bewusstsein ist ein dynamischer Prozess, der durch Interaktion mit der Umwelt aktiv geschaffen wird. Nur wenn wir diese ganzheitliche Sicht auf die Lebensaktivitäten eines Menschen einnehmen, können wir verstehen, was das Gehirn zu unserem bewussten Erleben beiträgt. Bewusstsein ist wie Geld, sagt Noë.

Woher wissen wir, wie viel ein Geldschein wert ist? Gewiss nicht, indem wir die molekularen Eigenschaften des Geldscheins untersuchen. Auch Depressionen sind nicht bloß Stoffwechselstörungen, die nur vom Gehirn ausgelöst werden. Die meisten modernen Neurowissenschaftler seien heute derart von einer bestimmten philosophischen Denkrichtung eingenommen, dass ihnen nicht einmal mehr auffällt, wie sehr sie darauf vertrauen. Man möge jedoch nicht übersehen, dass sie damit genau genommen nur ein Rätsel durch ein anderes ersetzen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir ebenso wenig erklären, wie eine riesige Ansammlung von Nervenzellen Bewusstsein produziert, wie wir erklären können, wie dies durch die Seele geschehen soll, schreibt Noë weiter.

Kritisches Resümee

Albert Einstein stellte einst fest, dass Probleme nie durch dieselbe Denkweise gelöst werden können, aus der sie hervorgehen. Wahrscheinlich gibt es Bewusstseinsphänomene, die im Rahmen eines materialistischen Menschenbildes nie plausibel erklärt werden können. Dazu zählen Nahtoderfahrungen, außerkörperliche Erfahrungen, bei denen Betroffene von oben herabschauend ihren eigenen Körper beobachten können oder etwa Kinder, die sich korrekt an Personen und Umstände erinnern, die sie nicht in ihren jungen Jahren erlebt haben. Das Gehirn ist wohl der bedeutendste Austragungsort des Bewusstseins für uns, sehr wahrscheinlich aber nicht die Ursache von dem, was uns im Innersten bewegt. Genau in diesem Punkt irren sich die materialistischen Dogmatiker.

 

Schreibe einen Kommentar