Wer wagt, gewinnt
Wie die Angst vor Risiko unsere Zukunft gefährdet
Status-quo-Bias, Verlustaversion, Sozialstaat, Versicherungen, Überregulierung, Komfortzone, Helikoptereltern, Überbehütung: Das gute und bequeme Leben hat Europa in die Falle der Risikovermeidung geführt. Doch das neue Risiko heißt Sicherheit – und das in zweifacher Hinsicht.
IBM war Ende der 1960er einer der ersten globalen Konzerne mit Niederlassungen in mehr als 70 Ländern. Man dachte, Management sei universell, musste aber feststellen, dass viele Dinge in den USA funktionierten, in anderen Ländern jedoch nicht. Geert Hofstede war Psychologe bei IBM International und bekam die Aufgabe, die Ursachen dafür zu erforschen. Und seine Entdeckung war bahnbrechend und ist bis heute Standard im interkulturellen Management: Nationale Kultur hat einen stärkeren Einfluss auf Arbeitsverhalten als Unternehmenspolitik. Die Unterschiede beschrieb er in sechs Dimensionen. Darunter war der UAI, der Uncertainly Avoidance Index, zu Deutsch: Unsicherheits-Vermeidungs-Index. Länder mit einem hohen UAI streben nach Sicherheit, Stabilität, Planbarkeit. Länder mit einem niedrigen UAI sind risiko- und experimentierfreudiger. Es wird wohl niemanden überraschen, dass die Länder Europas größtenteils einen doppelt so hohen UAI aufweisen wie beispielsweise die USA. Und dies hat enorme Auswirkungen, vor allem in der heute sogenannten VUCA-Welt.
Was ist VUCA?
Mit VUCA bezeichnete das U. S. Army War College die neue geopolitische Situation nach dem Kalten Krieg Anfang der 1990er-Jahre. Das Ende des Ost-West-Konflikts löste die klaren Feindbilder und Vorhersagbarkeit der Weltordnung auf. Ab den 2000ern wurde der Begriff auch in Wirtschaft und Gesellschaft allgemein für eine Welt voller Unvorhersehbarkeit übernommen. VUCA ist ein Akronym für
- Volatility (Volatilität), die ständigen und immer schnelleren Veränderungen unserer Zeit.
- Uncertainty (Unsicherheit), wodurch traditionelle Gewissheiten zusammengebrochen sind.
- Complexity (Komplexität), sodass die Ursache-Wirkungs-Ketten nicht mehr erkennbar sind.
- Ambiguity (Mehrdeutigkeit), was keine fixen Zuordnungen von „Richtig-Falsch“ erlaubt.
Europa wurde von dieser neuen Realität am linken Fuß erwischt. Denn nach zwei Weltkriegen und der dazwischenliegenden Weltwirtschaftskrise mit all den Erfahrungen von Instabilität, Hunger und Tod wurde Sicherheit zum obersten Gebot. Starke Sozialstaaten wurden aufgebaut, eine Konsum- und Wohlstandsgesellschaft sollte alle materiellen Grundbedürfnisse abdecken und sozialen und politischen Frieden garantieren.
Die Europäische Union wurde genau auf dieser ökonomischen Basis begründet: Wer wirtschaftlich voneinander abhängig ist, bevorzugt sichere und stabile Verhältnisse und führt keinen Krieg. Doch in der VUCA-Welt mit ihren neuen Herausforderungen von Migration, geopolitischen Verschiebungen, Terrorismus, Klimakrise, Artensterben, Digitalisierung, Energiekrisen, Ressourcenkonflikten, Finanzkrisen, Inflation u. a. m. reicht eine reine Wirtschaftsunion nicht. Und dies wird umso deutlicher, wenn man sich mit einer möglichen Gegenstrategie von VUCA beschäftigt: VUCA-Prime.

Was ist VUCA-Prime?
Am Institute for the Future (IFTF) in Kalifornien entwickelte der Zukunftsforscher Bob Johansen eine konkrete Antwort auf jede VUCA-Komponente und nennt dies VUCA-Prime:
- Vision (Vision), denn klare und inspirierende Zukunftsbilder geben gerade in unsicheren Zeiten eine Richtung.
- Understanding (Verstehen), um Zusammenhänge und Muster zu erkennen, aber auch anzuerkennen, dass nicht alles vorhersehbar ist.
- Clarity (Klarheit), selbst wenn es nur die Klarheit über unsere Unwissenheit ist, schafft Handlungsfähigkeit, während das Verharren in der Komplexität das Entscheiden und Handeln lähmt.
- Agility (Anpassungsfähigkeit), damit wir rasch aus Fehlentwicklungen lernen und uns laufend und flexibel an neue Gegebenheiten anpassen.
Während die meisten europäischen Politiker gebetsmühlenartig Sicherheit und Stabilität wahlversprechen, um ihre Wähler vermeintlich „zurück in die gute alte Zeit“ zu führen, verspricht VUCA-Prime erst gar keine Sicherheit, sondern lehrt, wie man in unsicheren Zeiten und Situationen handlungsfähig bleibt.

Dazu jedoch braucht es nach Johansen eine neue Qualität von Führungskräften. Eines seiner Bücher trägt den Titel: „Leaders Make the Future: Ten New Leadership Skills for an Uncertain World”. Selbst eine oberflächliche Prüfung dieser zehn Qualitäten macht klar, dass die politischen Eliten der EU über keine einzige davon verfügen. Zum Beispiel lautet die erste Qualität „Maker Instinct“, also die Zukunft aktiv zu gestalten, anstatt immer nur zu reagieren. Oder die Qualität des „Rapid Prototyping“, das heißt, Mut aus Fehlern zu lernen und rasch Neues auszuprobieren. Angesichts der überbordenden Bürokratie, der Schwerfälligkeit und des „Power Instinct“, also des Fokus auf Machterhalt der eigenen Person und Partei innerhalb der EU, erübrigt sich jeder Kommentar.
Natürlich sind neue Ideen rasch und leicht geschrieben, aber schwer und auch nur mit viel Geduld umsetzbar. Ich selbst prangere laufend die arrogante Selbstverständlichkeit von Schreibtischtätern – Berufsbezeichnung Journalisten – an, mit der sie Akteuren in Wirtschaft und Politik ihre Allheilmittel unter die Nase reiben. Aber eines ist und bleibt klar: Geänderte Umstände und Probleme verlangen geänderte Haltungen und Lösungen. In Europa wird die VUCA-Welt lieber klein geredet, anstatt große Visionen und Veränderungen in Angriff zu nehmen.
Genau die Sicherheit und Stabilität, die Europa nicht verlieren möchte und selbstmörderisch zu verteidigen sucht, genau die fehlende Bereitschaft zum Risiko ist das Risiko. Das erste Risiko. Das zweite liegt in uns, also in jedem Einzelnen.
„Wenn der Schüler nicht geht, wird der Weg zu ihm kommen.“
Zen-Weisheit
