Zeigen Sie Charakter – Oder: Wie frei sind Sie?

Zeigen Sie Charakter – Oder: Wie frei sind Sie?

Charakter
  • Die irdische Natur manifestiert sich im selbst gewählten sozialen und beruflichen Lebensmuster.
  • Und die himmlische manifestiert sich in der Seelenbeschaffenheit, die von selbst erworbener Erkenntnis zeugt, d. h., vom Anteil am Guten, Gerechten und Tugendhaften.

Diese Seelenanteile des Guten, Gerechten, Schönen und Tugendhaften kann man durch bewusste Arbeit an sich selbst und durch Übung entwickeln – z. B., indem man seine Selbstbeherrschung trainiert, Verzicht und Geduld übt wie im Marshmallow-Test. Sehr hilfreich dafür ist das Zusammenleben. Jeder, der in einer Partnerschaft oder Familie im Alltag zusammenlebt, weiß, wie herausfordernd und lehrreich das gute Miteinander ist. Das wussten auch die Alten, deshalb waren die antiken Philosophieschulen und auch die von Konfuzius in China im 5. Jahrhundert v. Chr. gegründete Institution zur Charakterbildung als Lebensgemeinschaften organisiert.

Wozu braucht man heute Charakterbildung?

Ungleichheit

Charakter ist der Garant einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere modernen Staaten werden von Korruption und Finanzskandalen erschüttert, die soziale Ungerechtigkeit wächst weltweit. Im Jahr 2019 besaßen 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens, wohingegen 57 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 1,8 Prozent besaßen. Für jeden Europäer sind durchschnittlich 40 Sklaven in den armen Ländern tätig. Ich könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Tatsache ist: Wir haben uns weit von humanistischen Idealen entfernt. Die einzige Lösung besteht darin, Werte und Tugenden wieder in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken.

Das hat auch der Wirtschaftswissenschaftler Qiu Feng festgestellt. Er beklagt die mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer desolater werdende chinesische Gesellschaft seit Abschaffung der Bildungstradition des konfuzianischen „Edlen“. Jahrtausende lang war der „Junzi“, der Ehrenmann, ähnlich dem griechischen „Aristos“, die Basis einer geordneten Gesellschaft. Diese Ehrenmänner waren gebildet, besaßen moralischen Anstand und verstanden sich zudem auf die Kunst und Weisheit der Staatsführung. So gewannen sie das Vertrauen der Bevölkerung, hatten außerdem Zugang zu Regierungsämtern und konnten ihre idealistischen Vorstellungen in die Regierung einfließen lassen. Qiu Feng plädiert für die Wiedereinführung von modernen Akademien im konfuzianischen Stil. Nur so könne sich in der chinesischen Gesellschaft wieder eine gesunde Ordnung etablieren …

Wie kann ich selbst meinen Charakter bilden?

Reaktion Charakter

Solange müssen wir jedoch nicht warten. Jeder kann sich selbst zu einem „Junzi“, einem Ehrenmann bzw. einer Ehrenfrau ausbilden.

Dazu wendet man für sich selbst das „Tough-Love“-Prinzip an:

  • Das heißt, einerseits Selbstbeherrschung und Achtsamkeit trainieren sowie sich selbst Grenzen setzen.
  • Und andererseits liebevoll mit sich umgehen.

Wenn Sie einen jungen Hund abrichten wollen, braucht dieser Klarheit und Zuneigung. Ebenso Ihre Persönlichkeit. Denken Sie an den Marshmallow-Test und die zweifache Natur des Menschen. Der himmlische Teil manifestiert sich in unserer Seele und in unserem Verhalten, das in Übereinstimmung mit den Tugenden gut, schön und gerecht sein soll. Im Marshmallow-Test wäre das die Fähigkeit des Verzichts, des Abwarten-Könnens, der Selbstbeherrschung. Der irdische Teil verhält sich oft unbewusst, von außen gesteuert. Er liebt den schnellen Genuss, greift also sofort zu. Und da beginnt die „Zähmung“ der Persönlichkeit. Jetzt noch nicht, doch wenn du widerstehen kannst, gibt es danach eine Belohnung. Anfangs Süßigkeiten, später Erfolg, Resilienz und Lebensglück.

Vielleicht klingt das etwas abstrakt, dazu gibt es jedoch ein schönes Modell von Stephen Covey: Wenn irgendein Reiz, also ein Ereignis von außen eintritt, haben Sie durch Ihr menschliches Bewusstsein immer die Möglichkeit, frei zu entscheiden, wie Sie reagieren wollen – im Gegensatz zu Tieren, die hier keine „Pause-Taste“ drücken können oder zu Kleinkindern mit wenig Bedürfniskontrolle.

Um die richtige Entscheidung zu treffen, können Sie vier Werkzeuge zu Hilfe nehmen:

Werkzeug Charakter
  1. Selbstbewusstheit: Dient dazu, die „Pause-Taste“ zu drücken. Stopp, jetzt muss ich mal durchatmen! Nur nichts überstürzen! Bewusstsein erheben, die Vogelperspektive einnehmen und die Situation nüchtern und cool betrachten.
  2. Vorstellungskraft: Es gibt viele Möglichkeiten der Reaktion. Mit unserem Geist können wir ganz neue Möglichkeiten erschaffen. Und auch imaginieren, wie wir ideal vorgehen würden.
  3. Gewissen: Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel. Jeder Mensch hat ein tiefes inneres Wissen von Recht und Unrecht.
  4. Unabhängiger Wille: Dient der Überprüfung, welchen Werten und Prinzipien gemäß ich handeln will – unabhängig von äußeren Einflüssen oder Erwartungen.

Die „Belohnung“ besteht in der tiefen inneren Befriedigung, bewusst und den eigenen höheren Seelenanteilen gemäß gehandelt zu haben.

Noch plastischer wird es mit konkreten Beispielen

mashmallow

Wir können den Marshmallow-Test auf viele Verlockungen unserer Konsumgesellschaft anwenden –
z. B. ein schickes Kleidungsstück oder ein ausgefeiltes technisches Gerät im Sonderangebot:

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten.
  • Vorstellungskraft: Sich vorstellen, wie es in drei Wochen wäre – wäre ich da immer noch glücklich damit oder ist
    es nur der Kick des Augenblicks?
  • Gewissen: Ist es richtig, dies zu kaufen und wieder Müll zu produzieren? Wie viele Sklaven arbeiten unter unwürdigen Umständen, damit ich so wenig bezahlen muss?
  • Unabhängiger Wille: Lässt sich mein irdischer Anteil, geprägt von materialistischen Werten, verführen oder handle ich den Werten des himmlischen, inneren Menschen gemäß?

Oder ein Missgeschick: Ich zerbreche eine kostbare Vase, jemand fährt mir eine Schramme in mein Auto, ich verliere mein Handy …

  • Selbstbewusstheit: Durchatmen. Innehalten. Die Emotionen kontrollieren.
  • Vorstellungskraft: Sich fragen, welche Bedeutung das in Hinblick auf das Leid der Welt hat oder im Verhältnis steht zur eigenen Sterblichkeit? Und andererseits vor allem: sich gleich auf Lösungen besinnen, anstatt beim Problem stecken zu bleiben.
  • Gewissen: Welche Ursache habe ich selbst gesetzt? Was lehrt mich die Situation? Vielleicht war ich hektisch, unkonzentriert … Oder Mitgefühl statt Ärger zu empfinden: Wie würde es mir gehen, wenn ich das Auto eines
    anderen beschädige?
  • Unabhängiger Wille: Ich kann die Situation nicht ändern, nur meine Reaktion. Ärger, Wut etc. schaden vor allem mir selbst. Dem will ich mich nicht aussetzen, sondern mit Ruhe und Besonnenheit vorgehen.

Sie sehen, dass wir uns täglich dem Marshmallow-Test stellen können. Und unsere Charakterstärke trainieren. Und unsere Freiheit ausüben. Die echte Freiheit ist eine innere Dimension. Jeder hat in unzähligen Situationen des Alltags die Wahl, seine geistigen Fähigkeiten – also Bewusstsein, Vorstellungskraft, Gewissen und den Willen – zu aktivieren.

Viel Erfolg beim Drücken der Pause-Taste – denn damit beginnt alles!

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 163 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.

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