Empathie – Eine Medizin für den Patienten und für den Arzt

Empathie – Eine Medizin für den Patienten und für den Arzt

Empathie

Grundlage für eine erfolgreiche, medizinische Therapie ist eine gute Beziehung zwischen Arzt und Patient. Man spricht in diesem Zusammenhang von Compliance. Jeder Patient erwartet und verdient Aufmerksamkeit, Zeit, wahrgenommen zu werden, im Mittelpunkt zu stehen und sich verstanden zu fühlen.
Unter Empathie versteht man nun die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Empathie ist die Wahrnehmung der Gefühle anderer wie zum Beispiel Trauer, Schmerz, Angst etc.
Der Mensch kann sich in andere hineinversetzen und ihre Gefühle verstehen. Dazu gehört auch die damit verbundene Reaktion auf die Gefühle anderer. In der Entwicklungspsychologie wird hier auch von einer Perspektivenübernahme gesprochen, wobei der Mensch, in der Lage ist, sich in den inneren Zustand eines anderen hinein zu versetzen. Aber das funktioniert leider nicht immer.

Sich vorzustellen, „im anderen drin“ zu sein, bedeutet Empathie.

Man stellt sich vor, das innere Erleben seines Gegenübers zu übernehmen. Wir versuchen, uns in das Gegenüber hineinzufühlen. Wir stellen uns die Frage, wie wir mit den Gefühlen des anderen Menschen umgehen sollen.

Empathie im kulturellen Kontext

Menschen, Kulturen, Empathie

Mitgefühl bildet, kulturhistorisch gesehen, eine wesentliche Säule aller großen Religionen: Obwohl die Begriffe Mitgefühl, Mitleid, Einfühlungsvermögen, Empathie und Barmherzigkeit, das tätige Mitgefühl etc. sich in ihren Definitionen geringfügig unterscheiden, fasse ich den genannten Begriffskomplex ab hier unter dem Begriff Empathie zusammen.

Im Christentum

hat Mitgefühl (Empathie) einen sehr hohen Stellenwert. Mitgefühl ist eine jener revolutionären Landmarken, die es dem Christentum ermöglicht haben, seinen Siegeszug im Römischen Reich anzutreten. Bereits der Apostel Petrus forderte die Christen auf: „Bekundet Mitgefühl, habt brüderliche Zuneigung und zartes Erbarmen.“ (1. Petrus 3:8) Paulus riet in ähnlicher Weise, als er sagte: „Freut euch mit den Freuenden, weint mit den Weinenden. Seid gegenüber anderen gleich gesinnt wie gegenüber euch selbst.“ (Römer 12:15,16)

Und ebenso berichtet Matthäus (9:36) über Jesus: „Als er die Volksmengen sah, empfand er Mitleid (Empathie) mit ihnen, weil sie zerschunden waren und umhergestoßen wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

„Verfolgt nicht eure eigenen Interessen, sondern seht auf das, was den anderen nützt.“
(Philipper 2:4)

Nach der Lehre der römisch-katholischen Kirche empfangen die Gläubigen die Fähigkeit zur Barmherzigkeit (Empathie) durch den Heiligen Geist, wird sozusagen die Empathie durch die Kraft des Heiligen Geistes geadelt und damit zur „Barmherzigkeit“, dem selbstlos tätigen Mitgefühl. Und nach Thomas von Aquin ist die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden.

Umarmen, Empathie

Im Judentum

und im Alten Testament gilt Jehova als der Innbegriff der Empathie: Obwohl Er selbst vollkommen ist, nimmt Er unsere Unvollkommenheit an und so finden wir in den Römerbriefen (Psalm 103 der Römerbriefe 5:12):
„… denn er selbst kennt ja unser Gebilde, ist eingedenk dessen, daß wir Staub sind.“ Den Juden, die aus Babylon zurückgekehrt waren, zeigt er seine Empathie in dem Satz: „Wer Euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ (Sacharja 2:8). Oder im 2. Buch Mose (34,6): „Der Herr ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Geduld.“

Der Islam

auch eine Buchreligion, sieht in Allah den „Allerbarmer“ (Ar-Rahman) oder die „Allbarmherzigkeit“ (Ar-Rahim). In diesen Bezeichnungen Allahs wird auf die immerwährende Empathie Gottes hingewiesen. Barmherzigkeit ist die vierte der fünf Säulen des islamischen Glaubens neben dem Bekenntnis zum alleinigen Gott Allah, dem Gebet, dem Fasten und der Pilgerreise nach Mekka.

Im Konfuzianismus

gilt Empathie als wichtigste Grundlage der familiären und staatlichen Ordnung. Im Daoismus findet sich im Daodejing die intuitive, natürliche, unaufgeforderte Güte der Menschen untereinander als Grundlage der Geisteshaltung. Im Hinduismus wird Gott, das All-Eine, Brahma u. a. als Ozean der Gnade und der Empathie beschrieben und für den Hindu gilt: „Mitgefühl ist ein Freund der Güte, Geduld, Sanftmut und Anmut und weitet das begrenzte Herz so weit wie den Himmel.“

In der Praxis des Mahayana-Buddhismus

spielt das Mitgefühl ebenfalls eine zentrale Rolle. Armin Bachelor führt darüber aus: „Die wahrhafte und aufrichtige Empathie ist eine von Anhaftung und persönlichen Vorlieben freie Empathie.“ Demnach sei die wichtigste Vorbedingung für echte Empathie, allen fühlenden Wesen mit Unvoreingenommenheit entgegenzutreten. So verschwinden die Grenzen zwischen Freund und Feind. In der Folge lösen sich Gefühle wie Anhaftung und Abstoßung auf und weichen einer spirituellen Existenz, in der Toleranz, Geduld und Verständnis als Grundlagen für das Mitgefühl weiterentwickelt werden können.

Eine der höheren Formen von Empathie ist es, das Ich im Kopf gegen das Du auszutauschen. Im Allgemeinen hält sich jeder selbst für die wichtigste Person. Jeder Patient hält sich für den einzig wirklich Kranken im Spital. Aber in dem Augenblick, in welchem es gelingt, sich im Kopf im Sinne einer echten Perspektivenübernahme in den anderen hineinzuversetzen und die Gefühle des anderen zu übernehmen, entwickelt man eine ganz neue Art der Empathie. Im Buddhismus gibt es die Lehre vom endlosen Strom der Wiedergeburten, in dem jeder schon einmal der andere war. In der Reinkarnationslehre waren alle fühlenden Wesen, „sentient beings“, irgendwann einmal unsere Eltern. Jedes fühlende Lebewesen war einmal jemand, der uns geholfen oder uns etwas Gutes getan hat.

Das Mindeste, was wir daher für diese Lebewesen tun können, ist, sie so zu behandeln, als wären sie unsere eigenen Kinder oder Lebewesen, die uns einmal geholfen haben. Dies soll man aus tiefstem Herzen heraus tun. Mit dieser Gesinnung sollen Buddhisten jedem Lebewesen wohlwollend gegenübertreten. Wenn es meinen eigenen Eltern schlecht geht, dann kann ich mich gut hineinfühlen, das bewegt und berührt mich. Ich würde für sie sorgen. Auch bei einer guten Freundin oder einem guten Freund kann ich mir das noch gut vorstellen. Wenn ich das ausdehne auf irgendwelche Bekannte, merke ich bald, dass ich an eine Grenze stoße. In der buddhistischen Reinkarnationslehre ist nun aber jedes Lebewesen irgendwann einmal meine Mutter oder mein Vater gewesen, was mir dabei hilft, das Mitgefühl auf alle Lebewesen auszudehnen. Ich kann ihnen nun wohlwollend gegenübertreten.

Die Auflösung des Ichs

Buddhisten gehen noch weiter: Sie versuchen das liebevolle Mitgefühl auch auf jene Menschen auszudehnen, die ihnen selbst nicht wohlgesonnen sind. Hier kommen Buddhismus und Christentum einander sehr nahe. Im tibetischen Buddhismus gibt es einen schönen Satz:

„Ohne zu zögern, sende ich alle meine spirituellen Verdienste, all mein Glück und alles, was ich je an Positivem hervorgebracht habe, an alle Menschen, an alle meine Feinde.“

„In meiner inneren Haltung tausche ich all mein Glück und meine Freude gegen die Sorgen und das Leid der Anderen. Ich gebe alles her, was mich glücklich macht und nehme alle Traurigkeit und Kränkung auf mich.“
Dies ist eine gefährliche Praxis, mit der man vorsichtig umgehen muss, weil dieser Gedanke zur Umsetzung drängt, aber nur so weit ausgeführt werden darf, soweit man es selbst auch ertragen kann. Ich muss mir immer die Frage stellen, ob ich in der Lage bin, es spirituell zu tragen und zu transformieren, aber die Gesinnung soll stets sein:
Der andere ist wichtig, während ich selbst unwichtig bin.

Wirklich gelebt macht diese Geisteshaltung glücklich.

Sie erinnert uns an den Moment des Verliebtseins, wo wir uns ununterbrochen mit dem Gedanken beschäftigen, dem geliebten Menschen eine Freude zu machen. Wir selbst kommen in diesen Gedanken nicht mehr vor und das ist es eigentlich, was uns glücklich macht. Es ist ein treffendes Beispiel dafür, dass Glücksgefühl nicht mit dem Befriedigen des Egos, sondern mit dessen Auflösung verbunden ist.
Jeder von uns weiß aus seiner Lebenserfahrung, dass alles, was wir an Leiden erfahren und was uns verletzt und kränkt, uns, wenn wir es bewältigen, letztendlich weiterbringt. Wenn wir Empathie für unsere „feindlichen Umstände“, zum Beispiel für Erkrankungen oder Schicksalsschläge, entwickeln, indem wir sie annehmen, durchleben und daran wachsen, erfahren wir eine Reinigung durch sie, sie bringen uns im Leben und in unserer Spiritualität weiter, so die Grundhaltung der tibetisch-buddhistischen Lojong Lehre.

Empathie nicht nur im medizinischen Alltag

Medizin mit Herz, Empathie

Ohne es nun explizit aussprechen zu müssen, entsteht durch die Beschäftigung mit diesem Thema längst eine Ahnung, dass Empathie eine zentrale Rolle nicht nur im medizinischen Alltag spielt. Wie können wir eine Weiterentwicklung von Empathie in uns verwirklichen? Was können wir von anderen Religionen lernen? Wie könnte für uns im täglichen Leben eine sublimierte Form von Empathie aussehen?

Eine Besonderheit sollte es sein, nicht nur Empathie mit den Leidenden, sondern allgemeines Wohlwollen anderen gegenüber zu empfinden.

In seiner höchsten Form könnte man von allgemeiner Menschenliebe sprechen. Eine positive Einstellung zu allen Menschen zu haben, nicht nur dann, wenn sie Leid erfahren, mit ihnen zu fühlen, sondern in jedem Menschen, dem man begegnet, positive Möglichkeiten zu sehen. Zu versuchen, sich in den anderen Menschen hineinzuversetzen und sich zum Beispiel vorzustellen, welche Talente in ihm ruhen und hervorgebracht werden können.
Vielleicht sollten Arzt und Patient auch einen Schritt weitergehen und den anderen annehmen, wie er ist, mit all seinen Stärken und all seinen Schwächen. So eine innere Haltung würde einen ganz neuen Raum der Arzt-Patient-Kommunikation eröffnen.
Welcher Weg kann uns dahin führen? Ein Weg dahin ist sicher, Rücksicht zu nehmen auf die Ängste und Sorgen der anderen und danach zu trachten, in ihnen ruhende Stärken zum Leben zu erwecken.
Aber dem anderen auch seine negativen Eigenschaften, wie Misstrauen, Nachlässigkeit oder Unverlässlichkeit erlauben zu können.

„Genauso, wie du bist, bist du für mich in Ordnung! …


… Wenn du etwas an dir verändern möchtest, unterstütze ich dich, wenn nicht, bringe ich dir dieselbe ungeteilte Aufmerksamkeit und liebevolle Grundhaltung entgegen. Du brauchst für mich nicht anders zu sein, als du bist.“

Biochemie der Empathie

Kreis mit Herzen, Empathie

In dem Moment, wo man selbst nicht mehr in Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit ist, sondern nur mehr der andere, entsteht ein Gefühl von Freiheit und Glück, das auch eine erklärbare, biologische Grundlage hat, welche von Wissenschaftlern in den letzten Jahren ausgiebig erforscht worden ist.
Diese haben für Empathie eine tiefe Wurzel in der Evolution gefunden. Es konnte sogar gezeigt werden, dass, während wir Empathie empfinden, die Herzfrequenz absinkt und das Hormon Oxytozin ausgeschüttet wird, welches für die zwischenmenschliche Bindung eine Rolle spielt. Das selbe Hormon wird bei der Mutter nach der Geburt durch erschiedene Reize freigesetzt und fördert Bindung zwischen Mutter und Kind.

In Summe kann man sagen:

Mitgefühl hat verschiedene Gesichter und bildet die Grundlage jeder funktionierenden Kommunikation und jedes Zusammenlebens.

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 157 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.

 

Eine Antwort

  1. Karl Heinrich sagt:

    Sehr schöne Zusammenstellung! Ist Robert Gasser Arzt? Wenn ja, dann Gratulation!

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