Vogelperspektive – zu Boden gehen oder … über den Dingen stehen

Vogelperspektive – zu Boden gehen oder … über den Dingen stehen

Vogelperspektive

Ich bin praktizierende Philosophin. Wie auch andere Leser der „Treffpunkt Philosophie“- Seite. Das ist im 21. Jhdt. ungewöhnlich. Im antiken Griechenland waren philosophische Übungen Teil des täglichen Lebens und des traditionellen mündlichen Unterrichts in den Philosophenschulen. Das Ziel war – und ist heute und für diese Serie „Lebenskunst“ -, das Leben zum Übungsfeld zu machen. Und jeden Tag philosophische Lehren in einer kontinuierlichen Praxis anzuwenden, wodurch man tiefer, freier und vor allem bewusster lebt.

Interessante Übung: die Vogelperspektive

Aus zahlreichen Philosophieschulen ist uns eine sehr interessante Übung bekannt. Die „Vogelschau“, bei der wir unser Bewusstsein erheben, um eine gesunde Distanz auf die Ereignisse des Lebens zu gewinnen. Im physischen Sinne haben Sie vielleicht schon erlebt, wie wohltuend es ist, vom Gipfel eines Berges aus das Leben und Treiben der Menschen tief unten im Tal zu betrachten. Oder beim Landeanflug die Städte, Wälder, Berge und Felder und das „Wuseln“ der ameisengleichen Zeitgenossen „von oben herab“ zu beobachten.

Philosophie Vogelperspektive

Zum „geistigen Höhenflug“ sagt der Stoiker Seneca Folgendes:

Die Seele besitzt das dem Menschen erreichbare Glück in seiner Vollkommenheit und Überfülle, wenn sie, alles Übel mit Füßen tretend, in die Höhe emporstrebt und in den innersten Bereich der Natur vordringt. Wenn sie dann inmitten der Sterne umherschweift, gefällt sie sich darin, die Mosaikfußböden der Reichen zu verlachen (…). Aber sie kann die Säulengänge, die von Elfenbein schimmernden getäfelten Decken, die zurechtgestutzten Parkanlagen, (…) nicht verachten, bevor sie nicht die ganze Welt umlaufen und, von oben her einen verächtlichen Blick auf die Kleinheit des Erdkreises werfend, (…) zu sich gesagt hat: Ist dies der Punkt, der unter so zahlreichen Nationen mit Feuer und Schwert aufgeteilt ist? Wie lächerlich sind doch die Grenzen der Sterblichen!

Man könnte meinen, Seneca hätte von einem Raumschiff aus auf die Erde geblickt und unseren blauen Planeten vom All aus gesehen … Der vietnamesische Astronaut Pham Taan formuliert:

Nach acht Flugtagen im Weltraum erkannte ich, dass der Mensch die Höhe vor allem braucht, um die Erde, die so vieles durchlitten hat, besser zu verstehen und manches zu erkennen, was aus der Nähe nicht wahrgenommen werden kann …

Stufen der Vogelperspektive

Philosophie Vogelperspektive

Doch so weit muss man gar nicht aufsteigen. Es gibt mehrere Grade oder Stufen der Vogelperspektive:

  1. Zum einen geht es darum, den Ereignissen des täglichen Lebens souverän und aus einer gewissen Distanz, quasi „über den Dingen stehend„, zu begegnen. Der aggressive Autofahrer, die Konflikte mit dem Partner, das trotzige Kind, der intrigante Kollege, Kopfschmerzen, Schulden, lästige Nachbarn, der kaputte Boiler etc., bekommen nur die unbedingt nötige, sachliche Wichtigkeit und bringen uns nicht so schnell aus der Ruhe.
  2. Zum anderen betrachtet man mit erhobenem Bewusstsein den Sinn hinter all den Dingen, die uns begegnen. Dem Gesetz des Karmas zufolge hat jede Sache, die uns zustößt, eine Bedeutung und stellt eine Prüfung dar, richtig zu handeln. Wenn wir zu nah dran sind, besteht die Gefahr, dass wir automatisch mit Ärger, Gereiztheit oder mit Opferhaltung reagieren, ohne unser Bewusstsein einzuschalten. Dabei gibt es unzählig viele verschiedene Handlungsalternativen …
  3. Die dritte Stufe beschreibt Marc Aurel folgendermaßen: „Nicht mehr nur mitatmen mit der umgebenden Luft, sondern auch mitdenken mit dem alles umgebenden Geistigen. Denn nicht weniger ist die geistige Kraft überall ausgegossen und durchdringt alles für den, der sie einzuziehen vermag, als die luftförmige für den, der sie einzuatmen vermag (…). Du wirst dir Weiträumigkeit schon jetzt dadurch verschaffen, dass du die ganze Welt in deinem Geist umfasst hältst und die unendliche Ewigkeit überdenkst.“

Gestalter des Lebens

Vogelperspektive

Von diesem erhabenen Blickpunkt aus verstehen wir, dass in der Welt Glück und Unglück, Freud und Leid, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod unentwirrbar miteinander verflochten sind. Es wird uns nicht gelingen, dem Schmerz zu entkommen. Seneca erklärt:

Geh mit dir zu Rate und erwäge, wofür du dich entscheiden sollst: Lust und Leid sind hier verbunden; um zu jener zu gelangen, musst du dieses auf dich nehmen. (…) Aber wisse, wenn du zu leben beschließt, dann hast du dich für die Welt in ihrer Gänze – für die Welt, wie sie mit ihren Freuden und Schmerzen vor deinen Augen ausgebreitet liegt – entschieden.

Man könnte jetzt einwenden, dass wir ja nicht selbst beschlossen haben, zu leben. Das stimmt. Jedoch können wir entscheiden, wie wir leben wollen. Sie kennen sicherlich die Metapher mit dem halbvollen/-leeren Wasserglas. Entscheidend ist, dass wir uns nicht als Opfer der Umstände fühlen, sondern als Gestalter unseres Lebens. Wir dürfen niemandem jene Macht über unser Leben übertragen, die uns selbst zusteht.

Zeitlich auf Abstand gehen

Man kann nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich auf Abstand gehen. Viele Dinge verlieren ja nach einer Weile an Bedeutung und manchmal fragen wir uns schon kurz danach, warum uns etwas so sehr aus der Fassung gebracht hat. Machen wir uns bewusst, dass wir in einigen Jahren alle tot sein werden. Welche Wichtigkeit haben dann die Dinge, die uns jetzt so bekümmern? Der Dichter Lukian (Zeitgenosse von Marc Aurel) sagt:

Wenn die Menschen sich von Anfang an klarmachen würden, dass sie sterben müssen, dass sie nach einem kurzen Aufenthalt im Leben aus diesem wie aus einem Traum sich entfernen und alles auf der Erde zurücklassen müssen, würden sie weiser leben und mit weniger Bedauern sterben.

Vogelperspektive

Der vietnamesische Zenmeister Thich Nhat Hanh empfiehlt folgende Übung: „Wo wirst du, mein geliebter Mensch, in dreihundert Jahren sein? Wo werde ich sein?“ Du brauchst nur achtsam ein- und auszuatmen und dir vorstellen, wie es mit euch beiden in dreihundert Jahren sein wird. Dein Ärger wird sogleich verschwinden. Und du erkennst, dass nichts anderes wichtig ist, als auf den Menschen, der vor dir steht, zuzugehen und ihn in die Arme zu schließen.

Momente der Glückseligkeit

Vogelperspektive

Wie Sie sehen, haben zahlreiche Philosophen und spirituell aktive Menschen erkannt, wie wichtig es ist, mit einigem Abstand auf unser Leben zu blicken und aus einer gewissen inneren Distanz heraus zu agieren. In unseren Philosophiekursen äußern die Teilnehmer immer wieder die Befürchtung, dass man so das Leben nicht mehr richtig genießen könne. Ich habe in jahrzehntelanger philosophischer Praxis die gegenteilige Erfahrung gemacht. Denn man erlebt sowohl Freud als auch Leid bewusster. Die positiven Dinge kann man mehr genießen, weil man sie voll und ganz erfährt und die Momente der Glückseligkeit auskostet. Die negativen Ereignisse bringen einen nicht so sehr aus der Ruhe, weil man ihre Relativität erkennt.

Wollen Sie es ausprobieren? Dann breiten Sie Ihre Flügel aus und erheben Sie sich – zu einem imaginären Höhenflug über die Landschaften Ihres Lebens.

 

Eine Antwort

  1. […] für das Magazin „Abenteuer Philosophie“ und ihre Blogbeiträge für unsere Website (im Bereich Lebenskunst) inspirierten sie zu diesem […]

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