Anders-Sein! Gentle-Sein!

Anders-Sein! Gentle-Sein!

Gentleman

Oder die Rückkehr von Idealen?

In der Geschichte suchten Menschen in schwierigen Zeiten nach einem Anders-Sein und einer Lebenshaltung, die besser ist – besser als die, die in die Krise geführt hat. Ist das heute noch so?

Das gab es schon immer. Menschen im Mainstream und Menschen, die anders lebten, weil sie anders sein wollten. Weil sie mehr Authentizität, mehr Großzügigkeit oder Gerechtigkeit leben wollten. Daher verpflichteten sie sich innerlich einem Ehrenkodex, Ordensregeln oder Werten, die sie sich für die Welt und die Menschen wünschten. Ein Beispiel dafür war der Gentleman.

WAS BEDEUTET GENTLE-SEIN?

Das englische Wort „gentle“ bedeutet „liebenswürdig“, „sanft“, „gütig“. In der französischen und lateinischen Wurzel bedeutet es auch „adeliger Herkunft sein“. Und „man“ im Englischen bedeutet „Mann“.

Allgemeiner übersetzt wird „man“ allerdings auch mit „Mensch“ gleichgesetzt, was der Bedeutung näherkommt. Da es hier um einen Lebensstil geht, spielt das Geschlecht keine Rolle und man kann es Gentle-Sein nennen.

Von Interesse ist nicht so sehr die Auszeichnung durch Geburt oder offizielle Auszeichnung, sondern es geht um die innere Einstellung des Menschen, die schon Aristoteles treffend formulierte: Ein vorzüglicher Mensch hat die „megalopsychia“ verwirklicht, die Großherzigkeit oder Seelengröße. Es ist jemand, der sich hoher Dinge für wert hält und auf den das auch wirklich zutrifft. Er besitzt Ideale im Leben und richtet es danach aus. Er bildet sich dementsprechend aus, dass er diesem Ideal auch gerecht wird und näherkommt. Es geht hier also um wirkliches Sein und nicht bloßes Scheinen nach außen.

RAIMUNDUS LULLUS UND DIE GEISTIGE RITTERSCHAFT

Hier noch ein anderes historisches Beispiel: Der spanische Philosoph und Gelehrte Raimundus Lullus verfasste im 13. Jahrhundert ein Büchlein über die Erziehung eines Ritters (Libro de la Orden de Caballeria). Zu jener Zeit war das Volk in einigen Teilen Europas der Willkür des Adels und der Ritterschaft hilflos ausgesetzt. Lullus, selbst Sohn eines spanischen Ritters, erkannte diese Ungerechtigkeit und stellte der Ritterschaft, die man durch Geburt erhielt, eine geistige Ritterschaft entgegen. So sollten nur jene Männer zu Rittern werden, die die liebenswürdigsten, weisesten, treuesten und stärksten waren und edelsten Geist, Bildung und Erziehung besaßen. Als zentrale Eigenschaft musste dieser Ritter allerdings den „Adel des Herzens“ besitzen. Es war also notwendig, dass ein Knappe diesen inneren Adel in sich eroberte, bevor er zum Ritter geschlagen wurde.

DIE DREI SÄULEN

Welche Grundeigenschaften musste ein Mensch, der dieses Anders-Sein leben wollte, laut Lullus in sich erarbeiten?

Lebenskunst
  1. Adel des Herzens
    Als Basis der geistigen Ritterschaft nennt er den Adel des Herzens, der unabhängig vom Adelstitel oder Geschlecht ist: ein edles Herz – eine reine Seele, die sich am Guten, Wahren und Schönen orientiert und dadurch einen Sinn für die Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten der Welt erlangt. Diese Vortrefflichkeit hilft auch zwischen den wichtigen und unwichtigen Dingen zu unterscheiden. Außerdem ist es diesem Menschen möglich, seine Ziele zu höheren Idealen auszurichten wie zum Beispiel der Gerechtigkeit in der Gesellschaft.
    Alles, was die Seele zum Erblühen bringt und aus der Kleinheit des Alltags befreit, unterstützt darin wie erhebende Musik, inspirierende Biografien oder starke Mythen und Sagen. Oder sich das Leben als Mythos vorzustellen und die Entscheidungen im Leben als Held zu treffen.

2. Höflichkeit
Eine authentische Höflichkeit erwächst aus einer tiefen Liebe für die Menschen und die Welt. Damit diese Liebe auch in jeder Situation ausgedrückt werden kann, braucht es adäquate Formen in allen Beziehungen des Lebens: zu den Menschen, zum Partner, gegenüber den Damen beziehungsweise Herren, den Dingen, die man besitzt und benutzt, den Tieren, der Natur, etc. Eine weitere Basis der Höflichkeit ist Toleranz, sodass man den anderen so wahrnimmt, wie er ist.

3. Innere Stärke
Heute auch oft als Resilienz bezeichnet, ist sie eine Fähigkeit, Schwierigkeiten oder Schmerzen standzuhalten, ohne dabei Schaden zu nehmen. Diese Widerstandsfähigkeit benötigt auch Anpassungsfähigkeit, Kreativität und Flexibilität im Leben. Das Ergebnis ist eine Unabhängigkeit und Freiheit von äußeren und inneren Umständen.
Dadurch ist es leichter, sich für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen, weil man die Konsequenzen aushält, wenn man zum Beispiel alleine für eine gute und gerechte Sache einsteht. Oder in einer Situation, in der Zivilcourage gefragt ist, ist es möglich, über den eigenen Schatten zu springen.

Innere Stärke

Mithilfe der inneren Stärke vertritt man dasjenige, das man für wahr erkannt hat, und ist auch gleichzeitig flexibel genug, die Sicht der Dinge anzupassen, wenn man sich geirrt hat.
Kann uns diese heute noch inspirieren?

DIE HANDLUNGSWEISEN DER ZEIT ANPASSEN

Jede Zeit hat ihre Notwendigkeiten und Formen, sie zu meistern. Es macht wenig Sinn, die Formen der Höflichkeit eines Ritterordens aus dem 13. Jahrhundert in der heutigen Zeit zu kopieren und anzuwenden. Stattdessen ist es die Herausforderung jeder Zeit, die Formen anzupassen.

Gentleman

Aber die Grundidee von Raimundus Lullus gilt sicherlich auch heute: Nehmt den Adels des Herzens als Leitfaden, die Höflichkeit als Ausdruck der Liebe und die Stärke als Werkzeug, um die Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.

Literaturhinweis:

  • Raimundus Lullus: Das Buch vom Ritterorden. Verlag der Feuervogel, 2009
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik
  • Martin Scherer: Der Gentleman: Plädoyer für eine Lebenskunst. dtv-Verlag, 2011

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 172 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.