Dein Platz im Ganzen
Gemeinsinn – der Sinn für das Gemeinsame
Die Überlieferung vieler alter Kulturen und Religionen weisen darauf hin, dass wir uns als EINE Menschheit empfinden sollen und als solche ein gemeinsames Schicksal haben. Auch Aristoteles sah im Menschen ein „zoon politikon“, ein Wesen, das von Natur aus auf das Leben in einer Gemeinschaft ausgerichtet ist. Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen.
Zusätzlich lehrt uns die Natur sehr eindrucksvoll, dass Wachstum und Fruchtbarkeit nur über komplexe, kooperierende Systeme funktionieren, wie es z. B. Forschungen über die unterirdischen Netzwerke von Pilzen aufzeigen. Über diese Netzwerke des sogenannten „Wood Wide Web“ tauschen Bäume Nährstoffe und Informationen aus und stellen die Einheit in der Vielfalt her. Wir Menschen als Teil der Natur können dieses Naturgesetz nicht ignorieren und denken, es würde keine Folgen nach sich ziehen.
So scheint uns der gegenwärtige historische Moment zu zwingen, diese Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbindung als Menschheit in unser Bewusstsein und unsere Lebenshaltung zu integrieren.
Doch wie kann das gelingen?
Wir brauchen ein neues Menschenbild

Vielleicht liegt die Antwort im Wort Gemeinsinn selbst. Es vereint das Gemeinsame – wie Gemeinschaft, Gemeinsamkeit mit dem „Sinn“, der nach Tiefe und Bedeutung fragt. Und gerade darin eröffnet sich ein ganzer Kosmos an Antworten. Genau dieser Sinn scheint mit den Schattenseiten des Individualismus immer mehr zu verkümmern. Nur auf das eigene Wohl zu blicken, nur auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu achten, sich nur um die persönliche Entfaltung und Verwirklichung zu kümmern, hat mitunter die Nebenwirkung, dass der Sinn des Lebens aus den Augen verloren wird. Viktor Frankl hat sein ganzes Leben dem Aufzeigen von Wegen gewidmet, wie der Mensch aus seinem „Existenziellen Sinn-Vakuum“ herausfinden kann. Schon vor fast 80 Jahren erkannte er, dass das Gefühl der Sinnlosigkeit eines der größten Probleme der Zukunft werden wird. Aus einem Sinnvakuum heraus entwickeln sich Aggression, Depression und Sucht -Themen, die zu immer größer werdenden Problemen unserer heutigen Zeit werden.
Der Mensch ist eben nicht nur ein Wesen, das Lust oder Macht anstrebt, sondern (vielleicht) vor allem anderen sucht er Sinn. Wie Nietzsche sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Der Sinn ist für den Menschen so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Aber was ist mit „Sinn“ gemeint?
Für Viktor Frankl ist das Sinnvolle gut für mich UND die Welt. Darin liegt der feine Unterschied zur heutigen individualistischen Sicht, wo man zuerst darauf blickt, ob etwas für einen selbst gut ist, und damit wäre es automatisch gut für die Welt. Aber: Sinnvoll ist nur das, was der Einzelne in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Dahinter steht das Menschenbild Viktor Frankls. Der ist nur dort ganz Mensch:
„wo er ganz aufgeht in einer Aufgabe oder ganz hingegeben ist an eine andere Person“.

Sinn findet sich dort, wo der Augenblick von uns fordert, an der Verwirklichung der großen Archetypen des Wahren, Guten, Gerechten und Schönen mitzuwirken. Jeder Mensch ist wie ein Puzzlestein, der fehlen würde, wenn er nicht seinen Platz im Ganzen einnimmt, – und den finden wir nur mit Gemeinsinn. Ja, wir haben die Freiheit und mit ihr untrennbar verbunden auch die Verantwortung, unseren Platz im Ganzen einzunehmen.
„Erst durch die Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen.“
Zum neuen Menschenbild gehört also, dass jeder von uns sich auf die Suche nach seinem Beitrag macht, um die Welt heiler, schöner, gerechter und ein Stück besser zu gestalten.
Literaturhinweis:
- Viktor E. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Verlag
- Assmann, J. Assmann, Gemeinsinn: Der sechste soziale Sinn, Beck Verlag
- Schnabel, Zusammen – Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen, Aufbau Verlag
- Tomasello, Warum wir kooperieren, edition unseld 36
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 181 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.
