Die Geburt eines neuen Zeitalters

Charles Eisenstein: Über die Krise unserer Zivilisation und die Renaissance der Menschheit
Wir leben in einem Zeitalter der Getrenntheit. Gewachsen über Tausende von Jahren haben Kultur und Technologie uns dahin gebracht. Nun erscheint dieser Fortschritt als ein Fluch. Doch was hält uns davon ab, eine bessere Welt zu erschaffen, von der unser Herz sagt, dass sie möglich ist?
Seit 200 Jahren wird vorausgesagt, dass die Technologie die Menschheit von Arbeit, Leid, Krankheit und sogar vom Tod befreien wird. Die Wissenschaft hat uns aus der Unwissenheit herausgeführt, die Technologie aus der Abhängigkeit von den Launen der Natur befreit und uns die Herrschaft über die materielle Welt übertragen. Eines Tages werden unser Verständnis und unsere Kontrolle vollständig sein. Warum sollte man diesem Fortschritt im Wege stehen? Neue Medikamente stehen bereit, ein paar Pillen heilen uns von früher tödlichen Krankheiten; Düngemittel in Massen eingesetzt führen weltweit zu Rekordernten; die Mondlandung beweist, dass wir bald die Erde hinter uns lassen werden können; wir kontrollieren die molekulare Ebene über Gentechnik und Nanotechnologie. Unser Schicksal ist es, uns über die Natur zu erheben und mit unserer Technologie werden wir maximale Kontrolle ausüben können. Diese starke Hybris erinnert an Dädalus: Zu nah an die Sonne herangeflogen, stürzte er ab. Es ist ja auch verlockend, näher an die allumfassende Macht und Kontrolle zu rücken. Da zuletzt die Entwicklung des Menschen mit einem Mehr an Technologie gleichgesetzt wurde, ist unser Glück abhängig von den Technologien. Wir sind nahezu süchtig danach. Daher teilen wir – die Kontrollsüchtigen – viele Eigenschaften von Drogenabhängigen. Kurzfristig funktionieren die Technologien, langfristig brauchen wir immer mehr davon, um uns normal zu fühlen.

Zeitalter der Technologie
Der „Schuss“ Technologie macht uns nicht dauerhaft glücklich. Im Gegenteil: Wir haben eine innere Wunde, eine Separationswunde: Sie zeigt sich in allgegenwärtiger Einsamkeit, nagender Unzufriedenheit, brodelndem Groll, einer nicht zu stillenden Gier, dem „Immer-mehr-haben-Wollen“. Der menschliche Drang, das Leben einfacher, sicherer, bequemer zu machen, hat die Technologie von Anfang an vorangetrieben. Im Sinne des hedonistischen transhumanistischen Imperativs des Gegenwarts-Philosophen David Pearce: Vergnügen maximieren und den Schmerz, das Leid ausschalten.
Als Resultat wurde nicht ein jeder wie ein Gott, wie es uns einmal versprochen wurde, sondern ein Sklave. Eine Identifikation mit dem Automaten in uns versagt. Massenhafte Gleichförmigkeit, lokale Unterschiede lösen sich auf. Jeder isst die gleichen Produkte, wir ziehen uns alle gleich an und verrichten die gleiche Arbeit. Die Maschine und das Maschinendenken schaffen eine Monokultur.

UNVERBUNDENHEIT AM ENDE
Wir reduzieren das Leben auf Nützlichkeit. Der Philosoph Jeremy Bentham formuliert die Pflicht der Regierung, die Summe des Glücks zu maximieren. Die Politik ist eine ständige Kosten-Nutzen-Analyse; in einer Fortführung auch zum Wert eines Menschen. „Jeder Mensch hat seinen Preis.“ Das Dogma der Nützlichkeit hilft selbst in der Umweltkatastrophe.
„Lasst uns die Umwelt retten, weil es uns sonst zu viel kosten würde.“ So lautet eine geläufige Ansprache. „Lasst uns das Höchste im Menschen ansprechen.“ Den Sinn für das Gerechte, das Schöne, das Gute und das Wahre. Das wäre mal eine andere Ansprache!
Eine weitere Prämisse der Unverbundenheit lautet: Wir leben in einem sinnlosen und toten Universum. Hier wird uns die spirituelle Dimension unserer Geschichte der Separation deutlich. Würden wir der Welt seelische Lebendigkeit zugestehen, könnten wir sie nicht so ausbeuten, hätten Respekt und Wertschätzung; würden wir der Welt einen Sinn erlauben, müssten wir uns auf die Suche nach den Gesetzen des „Zufalls“ machen. Der Buddhismus erklärt das Leiden durch unsere Unwissenheit den Naturgesetzen gegenüber.
Im modernen Zeitalter leben wir in einem ständigen Dualismus: Sieger und Verlierer, das Gute und Böse, Ich als das Subjekt und alles andere als das Objekt. Durch die Trennung von Gegensätzen versuchen wir die Welt zu verstehen. Getreide ist gut, Unkraut ist böse, Bienen sind gut, Heuschrecken sind böse, Schafe sind gut, Wölfe sind böse, Intellekt ist gut, Emotionen sind böse (zumindest bis vor ein paar Jahren). Die Technologie überwindet das Böse und fördert das Gute. In Gegensätzen zu leben, verursacht Angst.
Zeitalter der Ängste

Viele Ängste sind letztlich Stellvertreter unserer großen Angst, der Angst vor dem Tod. Wir haben Angst zu frieren, zu hungern, zur Arbeit zu gehen, keinen Urlaub zu bekommen, uns etwas nicht leisten zu können. Wir speichern Nahrungsüberschüsse, bilden Rücklagen. Völlig gegensätzlich leben die australischen Aborigines, getreu dem Motto: Solange es heute genug gibt, sorge dich nicht um morgen.
Leben bedeutet hier, Geschenke zu erhalten und solidarisch zu sein. Dies trägt selbstredend zur Dankbarkeit bei. Wie die Natur: Sie schenkt aus freien Stücken.
Ein Beispiel dazu gibt ein Piraha, der mit seinem Stamm im Amazonas lebt. „Ich speichere Fleisch im Bauch meines Bruders“, erklärte er auf die Frage, ob er Nahrungsmittelvorräte anlege. So wie in Cervantes Don Quixote (Teil 1, Kap. 11) der Held von einem Goldenen Zeitalter spricht, als die Menschen die beiden Worte dein und mein noch nicht kannten, als alles EINS war.
Unsere diffuse Angst führt zu Stress, zu einem Phänomen unserer Zeit. Für den englischen Philosophen Thomas Hobbes war dies jedoch eine Grundtriebfeder des Menschen. Angst vor anderen wölfischen Menschen („homo homini lupus“) und Angst vor der Natur, die er als gemein und brutal kennzeichnet; eine passable Rechtfertigung für den von ihm geforderten Staat und für unser gesamtes technologische Programm der Kontrolle; Kontrolle über die böse Natur und den bösen Menschen.
Es scheint zu stimmen, wenn der französische Biologe und Nobelpreisträger Jaques Monod konstatiert: „Wir sind im Herzen immer noch Animisten.“ Wir erkennen intuitiv die heilende Kraft der Einheit, wenn wir uns damit identifizieren. Kann eine Person gesund sein, wenn ihre Familie, wenn das Ökosystem krank ist? Wir würden doch nicht sagen: „Ich bin gesund, aber meine Leber und mein Herz sind krank.“
Machen wir uns die Ungeheuerlichkeit unserer Krise und das Ausmaß des Verlustes bewusst, kann als erste Reaktion eine niederschmetternde Verzweiflung entstehen. Jenseits der Verzweiflung liegt der Drang, das Leben in die Schönheit zu führen. Wir können eine andere Welt wählen, die schönere Welt, von der unsere Herzen uns sagen, dass sie möglich ist.
Innerhalb der Wirklichkeit der heutigen Welt ist das einzig sinnvolle Leben ein außergewöhnliches Leben.
