Die Suche nach der Wahrheit

Die Suche nach der Wahrheit

Wahrheit

DIALOG UND WAHRHEIT

Wenn wir einen falschen Wahrheitsanspruch leben, fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass gegensätzliche Meinungen wahr sein können. Ich hatte als Kind ein bis heute nachwirkendes Aha-Erlebnis, als ich mit dem bekannten Kippbild der alten und jungen Frau konfrontiert wurde. Ich sah minutenlang nur die alte Frau und wollte nicht akzeptieren, dass es eine junge Frau sein sollte. Erst durch den geduldig geführten Dialog mit meinem älteren Gegenüber erfasste ich erstmals, dass in unserer relativen Welt zwei unterschiedliche Sichtweisen zur gleichen Zeit wahr sein können.
Wir finden es auch interessant, Diskussionen zu verfolgen, in denen gegensätzliche Auffassungen vertreten werden. Denn dadurch werden wir auf unterschiedliche Gesichtspunkte aufmerksam, die wir davor gar nicht bedacht haben.
Angenommen, es kommt ein neues Medikament auf den Markt, beispielsweise eine Impfung. Zunächst werde ich dazu meine persönliche Meinung haben, beeinflusst von einer ganzen Reihe subjektiver Beimischungen: Ängste, Vorurteile, Hoffnungen usw. Dann werde ich versuchen, mir ein objektiveres Bild zu machen. Ich werde aufmerksam unterschiedlichen Auffassungen und Begründungen zuhören. Ich werde erkennen, dass oft nicht vom selben gesprochen wird; dass verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht werden, die aber sogar einander ergänzen können;
dass vermeintliche Gegensätze oft aus dem Hervorheben des einen und dem Weglassen von etwas anderem entstehen; dass es immer wieder zu unzulässigen Verallgemeinerungen kommt. Ich werde auch lernen, dass Argumente nicht nur der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen, sondern auch dem besseren gegenseitigen Verständnis.
So werden mich das Zuhören und der Dialog, also die aktive Auseinandersetzung mit der Ansicht des anderen, zu einer ganzheitlicheren Schau führen, aus der heraus ich mit mehr Gewissheit meine Haltung und mein Verhalten ableiten kann. Es ist also der Dialog, der mich näher an die Wahrheit heranführt.

SIEBEN SCHRITTE ZU EINEM GELINGENDEN DIALOG

Da die Suche nach der Wahrheit mittels des Dialoges davon abhängig ist, wie sehr ein Dialog ge- beziehungsweise misslingt, erlaube ich mir, einige praktische Anregungen hinzuzufügen:

  1. Mehr innerer Dialog:
    Je mehr ich mir meiner inneren Überzeugungen, aber auch meiner subjektiven Tendenzen bewusst bin, desto bewusster und objektiver kann ich zuhören und einen Dialog führen.
  2. Ich selbst sein:
    Nicht kalkulieren, nicht scheinen wollen, nichts erreichen wollen, nicht manipulieren.
  3. Wissen, dass ich nicht weiß:
    Je offener ich mein Nicht- oder Halbwissen vor mir selbst zugeben kann, umso offener bin ich gegenüber neuen Ansichten.
  4. Großzügig sein:
    Je mehr ich anderen Meinungen gegenüber großzügig bin, aber auch gegenüber anderen Ausdrucksweisen und anderen Bedürfnissen und Empfindungen, desto mehr kann ich mich einem anderen gegenüber öffnen. Oft sind es formale Dinge, beispielsweise wenn jemand zu viel oder zu emotional redet, wodurch ich mich verschließe.
  5. Nicht moralisieren:
    Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger agieren, nicht den anderen in fixe Kategorien einordnen: „Du bist immer so und so …“.
  6. Den Konflikt akzeptieren:
    Einerseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Meinung erweitert oder sogar umgestoßen wird, andererseits muss ich aber auch akzeptieren, dass ich die Meinung des anderen zu Fall bringen kann. Diese Art von Konflikt ist für jede Weiterentwicklung notwendig, wird aber destruktiv, wenn er sich mit persönlichen Befindlichkeiten oder Beleidigungen vermischt.
  7. „Erstaunlich“:
    Wenn ich mit etwas überhaupt nicht einverstanden bin oder umgehen kann, dann muss ich irgendwie die Distanz zur Situation wahren, damit ich nicht in Reaktionen des persönlichen Egos wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, Flucht und Ähnliches falle. Meine Strategie dafür lautet seit Langem, dass ich für mich innerlich oder sogar nach außen das Wort „erstaunlich“ ausspreche.
    Vor Kurzem erklärte mir jemand, dass in dieser Pandemie sowieso jeder seine eigene Wahrheit hätte, und dass Wahrheit überhaupt grundsätzlich relativ und daher der Dialog von vornherein umsonst sei: „Erstaunlich“!

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 168 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.