Mit Nietzsche in Sils-Maria

In dem kleinen Ort Sils-Maria im Oberengadin verbrachte Friedrich Nietzsche von 1881 bis 1888, mit Ausnahme des Jahres 1882, sieben Sommer. Man solle keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren wurde, sagte er und erwanderte sich viele seiner Ideen. Wir begeben uns auf seine Spuren.
Wer im Jahre 1880 von Norden kommend nach St. Moritz ins Oberengadin wollte, konnte bis Chur mit der Eisenbahn fahren, dann musste er in eine sechsspännige Postkutsche umsteigen. Die Fahrt dauerte einen ganzen Tag und hat die Fahrgäste gehörig durchgerüttelt. Der auf alle äußeren Einflüsse äußerst sensibel reagierende Nietzsche wollte, kaum angekommen, so schnell wie möglich wieder weg. Ein junger Engadiner, der in derselben Kutsche saß und nach Sils-Maria weiterfuhr, wo sein Vater 1875 das Hotel Edelweiß gebaut hatte, lud ihn ein, doch mitzukommen. Nietzsche antwortete, dass er sich einen Hotelaufenthalt nicht leisten könne. Es würde sich schon ein Bauer finden, der ihm eine Stube vermieten könne … Tatsächlich war es die Familie des Gemischtwarenhändlers, die ihm ein ungeheiztes Zimmer in ihrem Haus vermietete. Und so kam der ehemalige Baseler Professor der Altphilologie und jetzige staatenlose Wanderphilosoph nach Sils-Maria.

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am Geburtstag des Kaisers im Jahre 1844 in Röcken im heutigen Sachsen-Anhalt geboren. Sein Vater, den er schon in jungen Jahren verlor, war protestantischer Pfarrer gewesen. Nach dessen Tod zog seine Mutter mit ihm und ihrer Tochter Elisabeth nach Naumburg. Er bekam einen Freiplatz im Eliteinternat Schulpforta und studierte danach zuerst in Bonn, dann in Leipzig Philologie. Er hatte inspirierende Lehrer, wählte die strenge wissenschaftliche Arbeit aber auch, um seinen ausufernden Geist zu disziplinieren. Noch ohne Doktorarbeit oder gar Habilitation wurde Nietzsche mit vierundzwanzig Jahren Professor an der Universität Basel. Hier fand er auch seinen lebenslangen Freund Franz Overbeck, einen Kirchenhistoriker und Professor für evangelische Theologie.
Nietzsche, der seit seinen Schultagen leidend war – schwere Migräneanfälle, extreme
Kurzsichtigkeit und Spätfolgen des deutsch-französischen Krieges 1870/71, an dem er als Sanitäter teilgenommen hatte –, musste seine Professorentätigkeit zehn Jahre später aus gesundheitlichen Gründen wieder aufgeben. Er lebte von einer kleinen Pension der Universität und suchte von nun an, zumeist in Oberitalien und Südfrankreich, einen Ort, wo er sein Leiden ertragen und kreativ arbeiten könnte.
6000 FUSS JENSEITS VON MENSCH UND ZEIT
Randulins – Schwalben – heißen auf Rätoromanisch die Emigranten aus dem Engadin, die in der Welt ihr Glück versuchten. So gesehen ist auch Nietzsche ein Randulin. Während heute die Orte St. Moritz, Sils, Maloja ausschließlich vom Fremdenverkehr leben, mussten sie sich früher mühsam mit Landwirtschaft, Fischfang in den Seen, die das Tal entlang wie auf einer Kette aufgereiht sind, und ein bisschen Schmuggel über den Malojapass nach Italien hinein durchschlagen. Die Unternehmungslustigsten wanderten aus. Im 18. Jahrhundert gingen sie meistens nach Venedig und wurden Zuckerbäcker, also Konditoren. Von dort wurden sie wegen ihres großen Erfolgs wieder vertrieben, zerstreuten sich dann in alle Welt und einige von ihnen wurden reich. Am bekanntesten ist die Konditor-Dynastie Josty, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Berlin Konditoreien und Cafés betrieb, in denen auch der kaiserliche Hof und die Berliner Bohème verkehrten. Josty ließ im 19. Jahrhundert das Hotel Margna in Sils bauen, so wie der Vater unseres jungen Engadiners, dessen Hotel Edelweiß ebenfalls „aus Zucker“ ist.
Das Haus, in dem Nietzsche sieben Sommer verbrachte, ist heute ein Museum. Der Schulpförter (nein, kein Hausmeister, sondern ein ehemaliger Zögling von Schulpforta), Jugendfreund und Indologe Paul Deussen, beschrieb nach einem Besuch bei Nietzsche dessen Zimmer: Es sei, sagt er, das „denkbar einfachste“ gewesen – Tisch, Stuhl, Bett, Waschtisch und Bücher. Nietzsche hatte es sich wegen der extremen Lichtempfindlichkeit seiner Augen grün tapezieren lassen. Der Philosoph Theodor W. Adorno, der in den 1960er-Jahren oft nach Sils-Maria kam, fasste zusammen, was den Besucher auch heute noch bewegt: „Wie würdig man … arm sein konnte. … Damals erkaufte man um den Preis bescheidenster Lebensführung die geistige Unabhängigkeit.“ Hier also lebte und litt Nietzsche. Und schlief – schlecht. Und schrieb – viel. Viele Briefe, z. B. an Carl von Gersdorff: „Ach, was liegt noch Alles verborgen in mir und will Wort und Form werden! Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein, dass ich meine innersten Stimmen vernehmen kann!“
Nietzsche war ein geistiger Gipfelstürmer. Im täglichen Leben musste er jedoch auf den ebenen Wegen des Tals bleiben, weil ihm seine „sieben Achtel Blindheit“, wie er es selbst nannte, die Höhenwege versperrte. Schon 1881 kam ihm bei einem Spaziergang um den Silvaplaner See der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ein Grundgedanke von „Also sprach Zarathustra“, dessen zweiten Teil er 1883 in Sils zu Papier brachte. Nietzsche schrieb: „Dieser Gedanke gehört in den August des Jahres 1881: Er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: 6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit.“ Dieses für Nietzsche erschütternde Ereignis fand „bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block“, einem Felsen am Ufer des Silvaplaner Sees statt. Er hat später seine Freunde gern dorthin geführt, so auch Resa von Schirnhofer. Diese 1855 in Krems geborene Philosophin, die ihr Studium mit Dissertation und Promotion 1889 an der Universität Zürich abschloss, schrieb u. a. später in einem Essay „Vom Menschen Nietzsche“: „Auch mich, wie vorher und nachher andere seiner Besucher, führte er zum wasserumspülten Felsblock am Ufer des Sees von Silvaplana, dem Zarathustrastein, an jene wundervolle Stelle ernster Naturschönheit, wo dunkelgrüner See, naher Wald, hohe Berge, feierliche Stille ihren Zauber gemeinsam weben.“ Resa von Schirnhofer lebte ab 1909 in Brixen und ist dort 1948 gestorben.
