Mit Nietzsche in Sils-Maria

Mit Nietzsche in Sils-Maria


DER EINSIEDLER VON SILS-MARIA

Nietzsche konnte sich Menschen öffnen, wenn er zu ihnen Vertrauen gefasst hatte, und das schloss auch Frauen ein, wenn sie ihn nicht gefühlsmäßig bedrängten. Zu seinen engen Freundinnen gehörte in Sils auch die 1855 geborene Meta von Salis, die erste Historikerin der Schweiz und Kämpferin für das Frauenstimmrecht. Als Gönnerin und Verehrerin von Nietzsche kaufte sie 1897 die „Villa Silberblick“ in Weimar für das Nietzsche-Archiv und schrieb das erfolgreiche Buch über ihre Begegnung mit Nietzsche „Philosoph und Edelmensch“.

Villa Silberblick

Meta von Salis starb 1929 in Basel. Sie sprach von seiner „leisen Stimme voll Weichheit und Melodie“ und Resa von Schirnhofer rühmte seine „exquisite Sensibilität und zartfühlende ausgesuchte Höflichkeit“. Es sei auch noch auf seine untadelige ethische Lebenshaltung hingewiesen. Das ist nicht die einzige Diskrepanz zwischen Leben und Werk des „Philosophen mit dem Hammer“, als den er sich selbst bezeichnete. Er hatte noch weitere soziale Kontakte, die vorgenannten scheinen mir aber deshalb erwähnenswert, weil Nietzsches Beziehung zu Frauen, vorsichtig formuliert, problematisch war.
Trotzdem umgab den „Einsiedler von Sils-Maria“ eine Aura der Einsamkeit, die vor allem in seinen Gedankenwelten begründet lag. Nietzsche war ein Götzen-zertrümmerer: die morsche Kultur, die verlogene Moral, ein zu einem Konzept verkommener Gottesbegriff („Gott ist tot“). Wer konnte oder wollte ihm da folgen?
Rohde in einem Brief an Overbeck: „Eine unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit … umgab ihn. … Als käme er aus einem Lande, wo sonst niemand wohnt.“

Wir haben viele Fotos von Nietzsche, aber keines gibt seine existenzielle Einsamkeit so gut wieder wie ein Bild von Samuele Giovanoli (1877-1941), einem Bauern und naiven Maler aus dem Fextal (ein Nebental des En-gadin = rätoromanisch = Inn-Tal). Man sieht den Philosophen, unverkennbar mit seinem mächtigen Schnurrbart, im Gras sitzend und an einen Baum gelehnt, im Hintergrund der Silsersee und die Berge. Das Bild hängt im Hotel Seraina in Sils-Maria, dessen Besitzer Nachfahren des Malers sind.
Nietzsches Lieblingsspaziergang führte auf die Chasté, eine Halbinsel, die in den Silsersee hineinragt. Hier wollte er begraben sein, was sich nicht ergab. (Er ist in seinem Geburtsort Röcken begraben.) Nur sein Gedicht „Um Mitternacht“ aus „Zarathustra“ ist in eine Felswand gehauen.
Es führt ein Rundweg um die Halbinsel, die ansonsten erstaunlich wild ist: Zwischen Arven und Föhren ragen Felsen auf, dazwischen ist der Boden mit Wildblumen bedeckt. Atemberaubende Ausblicke öffnen sich auf den See und die Berge nach Süden, wo aus dem Bergell fast immer die Sonne herauf strahlt wie ein Hoffnungs-schimmer. Wie gerne würde ich ihn hier sitzen lassen, ihn, dessen „praktisches Ziel“ es war, „Künstler, Heiliger und Philosoph in einer Person zu werden“, aber sein Leidensweg endete nicht hier. Als sich im Sommer 1889 die Menschen in Sils-Maria fragten, wo er denn bliebe, ihr Höhlenbär (Nietzsche über Nietzsche), wussten sie noch nicht, dass er in Turin einen Zusammenbruch hatte, der ihn immer tiefer in die geistige Nacht hineinführte. Seine Schwester Elisabeth betreute (und vermarktete) ihn bis zu seinem Tod im Jahre 1900 in Weimar.

Nietzsche

Muss man Nietzsche mögen, sich gar mit identifizieren? Nein, muss man nicht. Er ist ein ambivalenter Denker, dessen melodiöse, von dichterischer Kraft geprägte Sprache aber auch heute noch aufrüttelt. „Sie hätte singen sollen, diese neue Seele.“ Ja, er war ein Hölderlin verwandter Dichter-Philosoph, dessen Sprache, seinem eigenen Empfinden nach, „ein Vorgefühl von Zukunft, von nahen Abenteuern und wieder offenen Meeren“ verrät. Ein Abenteuer ist die Begegnung mit Nietzsche allemal.

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 171 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.