Symbolik des Drachen – das Schöne und das Biest

DER DRACHE VEREINIGT UND HERRSCHT ÜBER DIE NATURKRÄFTE
Vom Glücksdrachen bis zum Ungeheuer, vom Drachen der Weisheit bis hin zur materiellen Blindheit. Kaum ein Symbol vereint so ambivalente Vorstellungen in sich. Liegt der Unterschied vielleicht nur in der Perspektive?
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Doch egal aus welcher Tradition oder Mythologie sie kommen, haben Drachen ähnliche äußere Merkmale. Als die Naturwissenschaftler die ersten Dinosaurierknochen zusammensetzten und darin ein riesiges unbekanntes Tier erkannten, galt das zunächst als Beweis für die einstige Existenz von Drachen. Die Drachengestalt besteht aus Rumpf, Beinen, Flügeln, Kopf von vier verschiedenen Tierarten, die jeweils für eines der vier Urelemente Feuer, Luft, Wasser, Erde stehen. Der Drache vereinigt und herrscht über diese Naturkräfte. Er kann fliegen, taucht aus Meereswogen auf, versteckt sich in Erdhöhlen und aus seinem Maul können Flammen lodern. Kein anderes Tier kann ihn im Kampf besiegen.
DER DRACHE AM HIMMEL
In der Sternkunde gehört das Sternbild Drache oder Draco in der nördlichen Hemisphäre zum Nachthimmel und es verschwindet nie hinter dem Horizont. So wie die Sonne den Taghimmel beherrscht, regiert der Drache die Nacht. Das heutige Sternbild „Kleiner Wagen“ gehörte in der frühen Antike zum Drachen und stellte seine Flügel dar. Im chinesischen Horoskop gibt es alle zwölf Jahre das Jahr des Drachen, das als positiv und glücklich betrachtet wird. Das Sternbild dazu ist eine ebenfalls große, aber andere Sternkonstellation, in welcher die westliche Astronomie die Sternbilder Becher, Rabe und Wasserschlange sieht.

GUT ODER BÖSE
Der Drache ist als Symbol ambivalent und mit unserer Schwarz-Weiß-Vorstellung von Gut und Böse schwer zu erfassen. In der westlichen Welt sieht man im Drachen die Eigenschaften Gewalttätigkeit, List, Gier, Stolz, Überheblichkeit, Willkür, unbeherrschte Wut und zerstörerische Kraft. Der Drache wird gefürchtet, denn er steht für eine böse Macht, welcher der Mensch hilflos ausgesetzt ist. In der asiatischen Welt symbolisiert der Drache zwar auch Kraft und Macht, die man nicht leichtfertig herausfordern sollte, aber vorrangig steht er für Stärke, Energie, Weisheit, Reichtum und Glück. Der gelbe Drache ist das Symbol für den Kaiser, den Herrscher, der mit Weisheit die kosmische Ordnung auf die Erde bringt und somit für Gerechtigkeit und Wohlstand sorgt. Wer sich mit dem Drachen verbinden kann, bekommt Zugang zum universalen Wissen.
DRACHENTÖTER

Weil im westlichen Drachen das abstrakte Böse „personifiziert“ ist, fordert es die Gegenkraft des Guten heraus, um das universale Gleichgewicht der dualen Kräfte wiederherzustellen. Der Erzengel Michael in der jüdisch, christlichen, aber auch islamischen Tradition kämpft für das Göttliche, denn sein Drache symbolisiert die Kräfte des Teufels. Dem Heiligen Georg liegt eine vorchristliche libysche Legende zugrunde. Er ist kein Engel wie Michael, sondern ein Mensch und kämpft für das Gute auf der irdischen Ebene.
Auf dieser tieferen Stufe ist das universal Göttliche auf die Ebene der Religion beschränkt und sein Drache steht für den Unglauben oder all die Verhaltensweisen, die den Menschen von der Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte entfernen. Der Tod des Drachen bedeutet, dass diesen negativen Kräften symbolisch die Macht genommen wird. Bei Helden anderer Mythologien und Märchen ist der Kampf für das Gute noch mal eine Stufe tiefer in der irdischen Welt. Das Gute ist ausgedrückt durch ein schönes, zartes Mädchen, das in ihrem Wesen nichts Bösartiges, Arglistiges oder Berechnendes hat. Der Drache, der sie geraubt hat und gefangen hält, ist genau das Gegenteil davon. Er hat geraubt, was ihm innerlich fehlt, statt diese Eigenschaften in sich zu entwickeln.
Der Kampf für das Gute ist siegreich, wenn der Held unerschrocken seine Feigheit überwindet und die Prinzessin befreit. Andere Drachen rauben und horten große Reichtümer, was bedeutet, dass Energien blockiert sind und nicht ihrem natürlichen Fluss folgen können. Der Held muss hier den Mangel an Großzügigkeit wieder ausgleichen.
DRACHEN BESIEGEN

Die Geschichte von „Jim Knopf“ von Michael Ende bringt eine wunderbare Synthese zwischen dem westlichen und dem asiatischen Bild des Drachen und den Eigenschaften eines Helden. Zunächst entspricht der Drache dem westlichen Monster, der die unschuldige Prinzessin gefangen hält und Furcht verbreitet. Der Drache vermittelt sein universelles Wissen durch Druck und Strafen. Bei Jim werden Wille und Mut geweckt, diesen Schrecken zu beenden. Nun kommt die geniale Wandlung. Der Drache wird besiegt, aber nicht getötet. Der Held entdeckt in ich die Tugend des Mitgefühls, selbst für den schlimmsten Gegner. Der Drache entdeckt in sich die Tugend der Dankbarkeit, dass nämlich besiegt werden nicht immer den Tod bedeutet. Dies setzt einen Verwandlungsprozess beim Drachen in Gang, bis er sich nach einem Jahr innerlich wie äußerlich zum asiatischen goldenen Drachen der Weisheit gewandelt hat.
Wenn uns das nächste Mal ein Drache begegnet, lohnt es sich, Ruhe zu bewahren und genauer hinzuschauen. Auch wenn es nicht der Glücksdrache ist, so hilft die Begegnung vielleicht zur inneren Verwandlung und dadurch im nächsten Schritt zum Glück.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 176 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.