Wenn die Seele spazieren geht
Was machen Sie im Sommerurlaub? Shinrin yoku? Die Entspannungsmethode aus Japan steht oben auf der globalen Spa- und Wellnesstrends und wird von Ärzten verschrieben … Auch in Europa etabliert sich diese Mode des „Forest Bathing“. Bei uns ist das ein mehr als hundert Jahre alter Brauch: Wandern und Spazierengehen in der Natur, vom Harz bis in die Südsteiermark, vom Schwarz- bis in den Wienerwald … Was ist das Neue daran?
Heimkehren zu alten heilsamen Gepflogenheiten
Unter dem Jahr treten wir im Hamsterrad unserer beruflichen und privaten Termine. Haben wir endlich Freizeit(stress), machen wir im gleichen Tempo weiter, flitzen mit dem Mountainbike bergauf bergab, nehmen an Großstadtmarathons teil, lassen uns in der Disco volldröhnen … und laufen dabei vor uns selbst davon. Doch es gibt auch andere Moden.
Klarheit finden
Wenn ich an der Isar spazieren gehe, sehe ich sie. Allein, zu zweit oder auch in Gruppen, ausgestattet mit Wanderstock, Rucksack und guten Schuhen sind sie unterwegs, die Wanderer. Und es werden immer mehr. Ihr Brauch ist bei uns schon über hundert Jahre alt, aber derzeit erlebt er einen echten Boom. Vor allem das Pilgern auf dem Jakobsweg ist in, inzwischen gibt es zahlreiche Bücher und Filme darüber. Warum tun die Menschen das? Mein Bruder, Theaterautor und Regisseur, immer unterwegs in Europas Groß- und Kleinstädten, wanderte letztens nach Mariazell. Nicht aus religiösen Gründen, sondern um zu sich zu kommen – nach einer beruflichen Schaffenskrise und dem Ende einer langjährigen Beziehung. Es war sehr wichtig für ihn, Klarheit über Lebensziele, Prioritäten und Werte zu finden.
Im monotonen Rhythmus der Schritte lässt es sich wunderbar nachdenken:
- Wer bin ich – jenseits meiner beruflichen oder privaten Auf und Abs?
- Wofür will ich meine Lebensenergie einsetzen?
- Was ist mir wichtig?
Spazierengehen ist jahrtausendealt
Am Berühmtesten ist wohl die „peripatetische Schule“ des Aristoteles, der in den Wandelgängen seines Gymnasiums das philosophische Diskutieren begründete. Auch die Stoiker schlenderten während des Denkens in einer Säulenhalle. Und Hunderte Jahre früher bestanden die Morgenübungen der Pythagoreer darin, in grünen Hainen zu wandeln, um zu sich selbst zu finden, bevor sie ihren Tagesgeschäften nachgingen. Große Religionsgründer wurden als Wanderer geschildert: Buddha, Jesus, Mohammed, Konfuzius, Lao Tse …
„So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in der nicht auch die Muskeln ein Fest feiern“,
sagte Nietzsche.
Die Einheit von Körper und Seele beflügelt
Beide sind aktiv, beide sind in Bewegung. Man kann eine Idee von mehreren Seiten betrachten. Die Energie fließt und bringt Gedanken an die Oberfläche, die irgendwo im Unbewussten ruhen. Der Atem fließt ruhig und gleichmäßig, das Gehirn ist mit Sauerstoff versorgt, die Natur beruhigt und belebt gleichzeitig die Sinne. Thich Nhat Hanh, vietnamesischer Zenmeister und Friedensaktivist, lehrt Gehmeditation. Wir sollen uns jedes einzelnen Schrittes bewusst sein, das Zusammenspiel der Muskeln und des Atems wahrnehmen, den Kontakt mit der Erde spüren. Die Füße sind unsere am stärksten „beladenen“ Körperteile, sie sind ständig in Kontakt mit dem Boden und durch diese Reibung werden sie aktiviert. Ideal ist das Barfußgehen. Alle Naturvölker nutzten dieses energetische Aufladen. So konnten sie z. B. bei der Jagd unglaubliche Distanzen zurücklegen, ohne zu ermüden. Beim Barfußgehen hat man sozusagen eine Gratis-Fußreflexzonenmassage.
Den Wald bewusst wahrnehmen
Sowohl im Gehen, Stehen – wenn Sie einen Baum umarmen, im Sitzen. Schließen Sie Ihre Augen und konzentrieren Sie sich auf Ihre Wahrnehmungen. Probieren Sie es aus. Jetzt gleich! Was hören Sie? Fühlen Sie den Kontakt Ihrer Füße mit dem Boden? Das Gewicht Ihrer Hände auf den Oberschenkeln? Automatisch sind Sie eins mit sich selbst. In der Natur kann man vieles sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. All dies beruhigt, zentriert, verinnerlicht. Schön, dass wir das wieder wertschätzen!
So haben die Alten übrigens die Wirkung von Heilkräutern entdeckt oder heilige Orte. Die Sinne sehr geschärft und mit innigem Kontakt zur Natur spürten sie, welche Pflanze wofür hilfreich ist oder welcher Ort über starke spirituelle Kraft verfügt. Beim Spazierengehen sind wir ganz in Gedanken vertieft. Doch dann lenkt ein schöner Sonnenuntergang, ein alter Baum, eine duftende Blumenwiese die Aufmerksamkeit nach außen. Und auf einmal sehen wir unser Problem mit ganz anderen Augen. Besonders stark ist die Erfahrung, wenn man auf einem Berggipfel steht und ins Tal blickt. Von oben betrachtet, und weil der Körper energiedurchflutet ist, verschwindet so manche Schwierigkeit von selbst …
Praktische Tipps für den Seelenspaziergang
- Tempo raus!
Manchmal hetzen wir ganz unbewusst auch beim Spazierengehen. Gehen Sie langsam und bewusst, lassen Sie sich treiben, verweilen Sie am Fluss oder unter einem Baum. Und ziehen Sie die Schuhe aus! - Mit allen Sinnen wahrnehmen!
Lassen Sie sich nieder, schließen Sie die Augen und hören, fühlen, riechen, schmecken Sie. Oder legen Sie sich in eine Wiese und beobachten das Leben darin. - Lebe ich meine Werte?
Denken Sie darüber nach, was in Ihrem Leben wirklich wichtig ist. Was ist das Sein? Was steht hinter den Erscheinungen? Was wird bleiben, wenn ich nicht mehr bin?
Der Weg ist das Ziel, meinen Sie auch?