Der gespannte Bogen oder warum Entspannung eigentlich Spannung ist

Der gespannte Bogen oder warum Entspannung eigentlich Spannung ist

Spannung

Stress, Burn-out, Hektik, Verspannungen – kurz, das Leben scheint von äußeren und inneren Spannungen geprägt zu sein, die eigentlich alle pathologisch sind. Die Menschen leiden unter Schmerzen, die von chronischen Verspannungen, Fehlhaltungen oder falschen Bewegungen herrühren und dem gegenüber steht ein Markt mit einer Unzahl von Angeboten verschiedenster Entspannungstechniken, die dieses Problem zu lösen versprechen.

Yoga, sogar „Business-Yoga“, autogenes Training, Qui Gong, Entspannung im Wasser, im Wald und sonstwo wollen die „ultimativen“ Methoden zur Lösung dieser verbreiteten Problematik sein. Aber bieten sie wirklich eine Lösung? Ich behaupte, dass sie zwar kurzfristig Linderung der Beschwerden bringen können, aber das Problem als solches nicht lösen.

Die richtige Spannung finden

In unser westlich-duales Denken hat sich das Bild von Verspannung und deren Auflösung in Nicht-Spannung eingeprägt und das ist die wichtigste Ursache dieses Problems. Damit schaffen wir ein sich gegenseitig ausschließendes Begriffspaar, denn man kann nur verspannt oder eben nicht verspannt sein. Wie unser gesamter westlicher „Gesundheits“-Ansatz fokussiert sich auch dieses Denken nur auf die Symptome, also die Verspannung oder die Entspannung, geht jedoch nicht auf die Ursachen dieser körperlichen Phänomene ein. Der Mensch konsumiert, wie in der Medizin Medikamente, hier Entspannungstechniken und meint, das Problem damit gelöst zu haben.

Jede Verspannung ist aber vor allem der physiologische Ausdruck einer seelischen (emotional-mentalen) Blockade, die bis dato, aus welchen Gründen auch immer, nicht aufgelöst werden konnte. Entspannungstechniken lindern das Symptom, ähnlich wie Kopfschmerztabletten Migräne lindern, lösen aber nicht die Ursache. So bleibt die innere Blockade, deren somatischer Ausdruck die Verspannung ist, weiter bestehen.

Heute wird gern die Tatsache übersehen, dass es in Wahrheit darauf ankommt, die richtige Spannung zu finden, oder deutlicher ausgedrückt:

Es ist nicht das Ziel, die Verspannung durch Entspannung aufzulösen, sondern sie in eine richtige, gesunde Spannung zu überführen.

Spannung

 

Ein Bogen, den man überspannt, bricht und wenn man ihn zu wenig spannt, schießt er unbefriedigend. So gesehen ist die richtige Spannung die Fähigkeit zur Handlung mit der genau richtigen Dosierung von Kraft und Energie auf allen Ebenen. Die richtige Spannung geht nach vollbrachter Tat einher mit der entsprechenden Rückführung der Arbeitsspannung in die Ruhespannung. Es hat keinen Sinn, die Arbeitsspannung länger als nötig aufrechtzuerhalten, denn wozu sollte das gut sein? Spannung und Ruhezustand sind also zwei miteinander verbundene und auseinander hervorgehende Zustände, bei denen jeder bereits im anderen enthalten ist.

Wir verwechseln Entspannung oft mit Passivität

Wenn man jemanden bittet, sich zu entspannen, dann verliert er meistens seine gesamte Körperspannung und wird zu einem völlig passiven „Mehlsack“. Die wirkliche Entspannung ist jedoch die Rückkehr zur Ruhespannung, oder besser gesagt, das Einnehmen der für jede Situation richtigen Spannung.

Damit ist sie ein ständiges Fließen und es gibt weder Rigidität noch Passivität. Auf diese Weise fließen wir von einem Spannungszustand in den nächsten und werden dabei immer das Gefühl haben, völlig entspannt zu sein, da wir uns immer in einer der Situation angemessenen Spannung befinden. Das ist natürlich, solange man lebendig ist, die vollkommen passive Entspannung ist der Tod.

Wenn wir uns von unseren gewohnten psychischen und mentalen Haltungen „entkonditionieren“, werden wir merken, dass sich der Körper völlig autonom auf jede Situation einstellt. Problematisch wird es erst, wenn dabei das Denken einsetzt, das den Körper in eine unangemessene Spannung versetzt, mit der er dann nicht mehr richtig reagieren kann.

Bleiben wir beim Bogen: Auch der Bogen ist ja in seinem Ausgangszustand nicht schlaff, sondern er hat seine Grundspannung, durch die er jederzeit für neue Handlungen bereit ist. Ihn völlig passiv zu machen würde bedeuten, die Sehne zu lösen, aber dann ist er als Bogen nicht mehr einsatzbereit und nur mehr ein Stück Holz mit einer Schnur dran.

Der Mensch selbst ist zwei grundsätzlichen Spannungen unterworfen

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Veränderungsspannung

Die erste ist die Veränderungsspannung, die von Geburt an in ihm angelegt ist und die ihn dazu antreibt, sich zu entwickeln, zu werden und sich zu verändern; ihr Ziel ist die Realisierung aller Potenziale, die in ihm angelegt sind. Sie bewirkt, dass der Mensch sich fortwährend verändert und seine Formen anpasst – Formen, die sich einander im Laufe des Lebens ständig ablösen.

Das hatten beispielsweise die Sioux in ihren Bräuchen sehr schön verankert, wo ein Mensch nach einer mutigen oder wichtigen Tat seinen Namen ändern durfte und forthin nur mehr unter diesem Namen bekannt war. Der alte Name, also die alte Form, hatte keine Bedeutung mehr.Wenn dieser Veränderungsprozess sich verwirklichen kann, dann fühlt sich der Mensch eins mit sich und der Natur. Aber nicht jeder Mensch ist für diese Spannung offen und kann sie in gleichem Maße wahrnehmen oder mit ihr umgehen, und das hat viel mit dem Wertesystem einer Gesellschaft zu tun.

Beharrungsspannung

Wenn, so wie heute, die dominierenden Werte Besitz und Status sind, ist Veränderung eher unerwünscht und die zweite Spannung gewinnt die Oberhand: die Beharrungsspannung, der Widerstand. Sie ist die Tendenz des psychischen und körperlichen Menschen, in seinem Zustand zu verharren, will den Stillstand, das Beibehalten einer einmal erzeugten Form. Widerstand führt zur Fixierung des Ich in Raum und Zeit, zum Egozentrismus, der sich das Zentrum des Universums wähnt. Er ist der große Widersacher im Reifungsprozess des Menschen und damit der Ausdruck eines tiefen Misstrauens dem Leben gegenüber, das ja permanente Veränderung ist.

 

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