Berufung –Brauchen wir das?

Berufung –Brauchen wir das?

Macht es Sinn, ein Leben lang einer Berufung nachzulaufen, die es vielleicht gar nicht gibt? Andererseits, ohne diese Berufung verkommt jeder Beruf zum bloßen „Ich arbeite, um zu leben“. Und das Verkommene macht uns krank – zumindest seelisch. Endstation Burn-out! Also wage ich zu behaupten, dass es doch etwas gibt, zu dem wir alle berufen sind.

„Den Beruf zur Berufung machen!“ Klingt ebenso schön wie abgedroschen. Es klingt wie „Schlank in nur zehn Tagen!“ und damit wie alle Heilsversprechen: Wir wollen es glauben und wissen gleichzeitig, dass es nicht funktioniert. Oder zumindest nicht so einfach funktioniert.
Dazu braucht man sich nur die gängigen Antworten auf die zentrale Frage anzuschauen:

Berufung – Was ist das überhaupt?

Drei Hauptkriterien werden hier meist genannt:

Erstens muss es eine möglichst große Übereinstimmung von den Interessen und Fähigkeiten des Berufenen mit den Aufgaben und Anforderungen seiner Arbeit geben.
Zweitens muss der Arbeit eine besondere Bedeutung bzw. ein höherer Sinn beigemessen werden.
Und drittens muss der Berufene in irgendeiner Form an das Wirken einer höheren Macht, einer Gottheit oder eines Schicksals glauben.

Genau von so einer Macht fühlt oder weiß er sich eben berufen, was solchen Menschen einen oft übermenschlichen Willen und eine unbändige Kraft verleiht, ihre Mission zu verfolgen und umzusetzen.
Diese Kriterien mögen auf so manchen Forscher, Erfinder, Entdecker, Politiker, Künstler oder Prediger zutreffen.
Dass eine Reinigungskraft sich je auf den höheren Sinn ihrer Aufgabe und ihre schicksalhafte Mission berufen hätte, wäre mir nicht bekannt. Da nützt es auch nicht, wenn sie sich auf ihrer Visitenkarte als Facility-Manager bezeichnet. Auch von einem zum Facility-Manager-Berufenen habe ich noch nie gehört. Dabei soll es ja laut den derzeitigen Life Coaches und Therapeuten, wozu sich offensichtlich auch immer mehr berufen fühlen, ganz einfach sein, seine persönliche Berufung zu finden.


Zunächst gilt es, sein persönliches Mission-Statement zu formulieren wie zum Beispiel: „Ich möchte Gewaltlosigkeit leben und dadurch den Weltfrieden fördern.“ Hier würde sich also schon der Weg zur Berufung öffnen. Dann gilt es, ganz einfach, die Ziele und Zwischenschritte zu definieren und schließlich geht es nur noch darum, diese Ziele und Zwischenschritte umzusetzen. Ah ja, und es gilt, sich nicht von Angst, Fehlern und Rückschlägen entmutigen zu lassen. Und schon ist der zum globalisierten Mahatma-Gandhi-Berufene geboren.
Sarkasmus ist normal nicht meine Art. Dass ich angesichts solcher Betriebsanleitungen à la „In drei Schritten zur Berufung“ nun dazu regelrecht aufgerufen worden bin, möge man mir verzeihen.

Ich glaube eben nicht daran, dass es einfacher ist, seine Berufung zu finden und zu leben als ein Nachtkästchen von Ikea zusammenzubauen.

Berufung

Liest man sich die drei Hauptkriterien, was Berufung ausmacht, nochmals in Ruhe durch, kommt man schnell zum Schluss: Wirklich Berufene gibt es wenige. Die „Mozarts“ und „Einsteins“ sind die Ausnahmen. Hier verschmelzen persönliche Genialität und historischer Moment. Sie können gar nicht anders, als diesem Ruf zu folgen.
In solchen Giganten scheint sich tatsächlich das Wirken einer höheren Macht zu offenbaren.
Wie aber sollen nun wir Durchschnittsmenschen mit unserer „Berufung zum Durchschnitt“ fertig werden?
Wortwörtlich lese ich in so manchem Blog vornehmlich junger Menschen: Ich suche erst gar nicht nach meiner Berufung, sondern gehe dem Impuls und der Leidenschaft nach, was mich im Moment interessiert und glücklich macht. Dem liegen der Glaubenssatz bzw. die Desillusionierung zugrunde, dass es die eine Berufung oder den einen Partner im Leben gar nicht gibt. Wenn also die Emotionen abkühlen oder die Leidenschaft gerade in eine andere Richtung lenkt, dann folge ihr.
Diesem Ansatz wohnt die Gefahr der Oberflächlichkeit inne. Bevor ich mich in einem Beruf oder einer Beziehung vertiefe, hat mich der spontane Impuls längst an einen anderen Interessensschauplatz gezerrt. Diese Menschen fühlen sich nie angekommen. Sie sind ewig unzufrieden und rastlos, gewissermaßen Lebens-Heimatlose, wenn nicht sogar Obdachlose. Ein spannender und tröstender Ausweg aus den beiden Extremen „Ich muss unbedingt meine Berufung finden“ und „Berufung gibt es gar nicht“ zeigt sich im japanischen Ikigai-Prinzip.