Aufatmen
Von der natürlichsten Sache der Welt
Atem ist Leben, doch wir haben das fast schon vergessen. Bis uns ein kleines Virus dies wieder vor Augen führt. Atem ist auch Seele und Geist. Der Atem unter die philosophische Lupe genommen …
Im Münchner Stadtteil Giesing steht eine große neugotische Kirche vom Ende des 19. Jahrhunderts, die in den verschiedenen Kriegen schwer gelitten hat und bis vor Kurzem nur mit normalem Fensterglas ausgestattet war. Jetzt schmücken die Apsis wieder farbige Glasfenster, die der Münchner Künstler Christoph Brech entworfen hat. Der Besucher sieht zuerst wohl nur blaue und weiße Flecken, die je nach Tageszeit und Lichteinfall in ihrer Farbintensität schwanken. Bei näherer Betrachtung erscheinen die weißen Flecken leicht wie Federn, flügelartig. Ja, es sind Flügel, Lungenflügel. Der Künstler hat Röntgenaufnahmen verwendet, die ihm Gemeindemitglieder zur Verfügung gestellt haben.
Während auf normalen Röntgenbildern die Lungen schwarz erscheinen, sind sie hier weiß: Der Künstler hat die Farben invertiert, also „umgedreht“. So ein Projekt hat eine lange Vorlaufzeit und deshalb war es keine Absicht, die Fenster im Coronajahr 2020 einzusetzen, aber – ein erstaunlicher Zufall ist es doch und gibt Anlass, über die natürlichste Sache der Welt nachzudenken: über unseren Atem.
Atmen müssen wir ja nicht lernen, wir werden mit dieser Fähigkeit geboren. Wir atmen etwa zwölf Mal pro Minute, zwanzigtausend Mal pro Tag. Apnoe-TaucherInnen können den Atem bis zu zehn Minuten anhalten. Versuchen Sie es doch erst einmal mit einer oder zwei Minuten … Die Atmung wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert wie Herzschlag und Verdauung, aber im Gegensatz zu diesen kann der Atem beeinflusst werden.
Meistens läuft er jedoch unbemerkt ab. Wir wissen natürlich, dass wir nur so lange leben, wie wir atmen, machen es uns aber zu selten bewusst. Plötzlich werden wir darauf gestoßen: Ein fieses kleines Virus ist aufgetaucht und behindert unsere Atmung aufs Schwerste, wenn es sich einmal festgesetzt hat. Das kann bis auf die Intensivstation eines Krankenhauses und zur Intubation führen. Medizinische Masken und Abstandsregeln wurden uns fast schon zur zweiten Natur, denn der Atem unseres „Nächsten“ (im wahrsten Sinne des Wortes) kann tödlich sein. Dabei ist Atem Leben, und das haben wir viel zu lange vergessen. Welche Wonne, die Lungen tief mit frischer Luft füllen zu dürfen!
ATEM IST LEBEN
Wir atmen auf, wir holen Atem, wenn wir etwas Unliebsames hinter uns gebracht haben, und wenn es einmal nicht so gut läuft, dann geht uns die Luft aus. Es kann uns schon mal den Atem verschlagen, wenn wir etwas Unerhörtes wahrnehmen. Wenn wir gar in Atemnot geraten, dann ist es Zeit innezuhalten. Der Atem ist ein Freund fürs Leben. Er verbindet uns nicht nur mit unseren Mitmenschen, sondern mit der ganzen Erde. Alles atmet, alles lebt. Ohne die Fotosynthese der Pflanzen des Meeres und des Festlandes gäbe es keine Erdatmosphäre, wie wir sie kennen, und wir hätten nichts zu atmen, ja, uns und den ganzen Rest gäbe es gar nicht. Der Atem ermöglicht die Grunderfahrung, dass wir mit allem in Beziehung stehen. Dazu ein Gedicht von Rose Ausländer:
Ich atme dich ein und aus.
Die Erde atmet dich und mich aus und ein.
Aus ihrem Atem geboren, mein Gedicht.
Wer denkt schon darüber nach, was seine Lunge leisten muss? Wir atmen ungefähr einen halben Liter Luft ein und wieder aus – und das ein Leben lang! Wir können unsere Lunge unterstützen, u.a., indem wir unser Zwerchfell trainieren. Es senkt sich beim Einatmen ab, wodurch sich der Brustraum „öffnet“, sich die Lungenflügel ausdehnen und sie viel frische Luft aufnehmen und – ganz wichtig! – auch wieder abgeben können. Eingeschränkter Atem, etwa durch zu langes Sitzen oder Stress und Aufregung, bedeutet eingeschränkte Lebendigkeit.
Der Atem eröffnet uns neue Räume, und das nicht nur in der oben angedeuteten physiologischen Weise. Das Wort „Atem“ geht auf das altindische „Atman“ zurück. In der indischen Philosophie bezeichnet „Atman“ den unsterblichen, immateriellen Teil unseres Wesens. „So du zerstreut bist, lerne, auf den Atem zu achten“, sagt der Buddha. Die einfachste, und gleichzeitig schwierigste meditative Praxis besteht darin, seinen Atem zu beobachten. Wie ist er, wie strömt er durch die Nase, wie fließt er in die Lungen? Ist er kurz und oberflächlich, hebt sich nur der Brustkorb ein wenig oder atme ich tief in den Bauch in meinem eigenen Atemrhythmus, der auch die Dreiteilung Einatmen / Ausatmen / Atempause enthält?
Unser Freund, der Atem, zeigt uns unmissverständlich, in welcher Verfassung wir sind, und er ist jederzeit bereit, uns zu helfen und uns in eine ruhige und ausgeglichene Gemütslage zu versetzen. Hier noch ein Gedicht von Rose Ausländer:
Die Vergangenheit hat mich
gedichtet.
Ich habe die Zukunft geerbt.
Mein Atem heißt: Jetzt.
ATEMBERAUBEND!
In fast allen Kulturen und Religionen wird der Atem mit der Lebensenergie, der Seele und dem Geist gleichgesetzt. Ich gebe zu, das ist nicht leicht zu unterscheiden und zu definieren. Vielleicht hilft uns auch hier die Sprache weiter, wenn wir sagen, dass etwas „beseelt“ ist, wenn wir „begeistert“ und „inspiriert“ sind, uns etwas „animiert“ oder wir – hoffentlich nicht – „beatmet“ werden müssen.
Martin Buber übersetzt das mythische Bild aus der Genesis, wo der Mensch zum Menschen wird, so:
„… und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker, und er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens (ruach), und der Mensch wurde zum lebenden Wesen.“
Im Yoga heißt dieser Hauch mit seiner alles belebenden Kraft Prana, und man macht Atemübungen, Pranayama, um sich des Atems bewusst zu werden und die Lebensenergie zu erhöhen. In den ostasiatischen Kulturen ist es das Chi oder Qi, das in einer sogenannten „inneren Kampfkunst“ wie Tai Chi Chuan oder einem meditativen Bewegungstraining wie Qigong harmonisiert werden soll. Ob wir eine von diesen oder eine westliche Atemtechnik bevorzugen, ist nicht von Bedeutung. Wichtig wäre es, dass wir uns endlich mit unserem Atem anfreunden, und das heißt vor allem, auf ihn zu achten. Er hält uns ja nicht nur am Leben, er bewahrt uns vor so manchen übereilten Entscheidungen, wenn wir vorher ein oder zwei Atemzüge lang überlegen. Dasselbe gilt für jähzornige Reaktionen. Auch melancholische und depressive Verstimmungen gehen mit einer Einschränkung des Atems einher.
Die Achtsamkeit auf den Atem, ihn langsam tiefer werden zu lassen, beruhigt allgemein. Die neuen Räume, die uns der Atem zugänglich macht, sind auch neue Bewusstseinsräume, denn ein harmonisierter Atem öffnet uns die Tür zu einer Weite, die hinter dem Gedankenschleier liegt. Alles zusammengenommen kann man die Funktionsweise und die Geschenke des Atems einfach nur atemberaubend nennen.
J. W. von Goethe hat sich auch über den Atem Gedanken gemacht, tiefgründige Gedanken, und sie in eines seiner berühmtesten Gedichte gefasst. Es geht dabei auch ganz allgemein um den Wandel, ohne den kein Leben möglich ist. Wer sich dem Wandel entzieht, stirbt. Ein und aus – das ist das Gesetz des Lebens. Wenn es hier auch nicht angesprochen ist, so steht doch noch etwas anderes im Hintergrund: nämlich das Vertrauen auf den nächsten Atemzug. Ich darf ganz ausatmen, muss nichts zurückhalten, in der Leere der Atempause baut sich die neue Einatmung schon auf.
Goethes Gedicht steht in der Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt,
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
und dank ihm, wenn er dich wieder
entläßt.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 168 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.