Harmonie durch Gegensatz
Willst du etwas erreichen, beginne mit dem Gegenteil!
Gesundheit ist Harmonie zwischen Geist und Körper. Gemeint ist dabei jedoch nicht öder Gleichklang, sondern Zusammenklang von Gegensätzlichem. Wie kann das gelingen?
Paracelsus war ein kluger Mann. Er war nicht nur ein überragender Arzt seiner Zeit (1492 – 1541), sondern auch Philosoph.
Wie seine berühmten griechischen Philosophie-Kollegen Thales von Milet, Anaximander oder Heraklit, ist er der Naturphilosophie zuzurechnen, jenem Zweig der klassischen Philosophie, die ihre Erkenntnisse aus dem Studium der Naturgesetze schlussfolgert. Die Natur ist nicht wild und chaotisch, sie ist geordnet und folgt strengen Gesetzmäßigkeiten. Paracelsus zum Beispiel konnte anhand der sogenannten Signatur von Heilpflanzen – Farbe, Form, Anzahl von Blättern, Geschmack etc. – deren Wirkung bestimmen.
Laut Paracelsus ist Gesundheit Harmonie: zwischen Geist und Körper, Vernunft und Gefühl, Einatmen und Ausatmen, Aufnahme und Ausscheidung. Das dazugehörige Grundgesetz der Natur lautet: „Harmonie durch Gegensatz“.
Dem alten China gelang es, diese komplexe Wahrheit einfach darzustellen mit dem Yin-Yang-Symbol.
Es ist der Gegensatz, der Bewegung und damit Leben schafft. Yang steht für Aktivität, Hitze und Bewegung, Yin für Ruhe, Kälte und Passivität. Was ist Hitze? Wenn das Thermometer 35 Grad im Schatten zeigt? Wie nennen wir dann die Temperaturen, die auf der Sonne herrschen? Alles ist relativ. Und so zeigt der kleine weiße Punkt im schwarzen Feld an, dass es auch dort heiß und kalt gibt. Wenn einmal das weiße und dann wieder das schwarze Feld überwiegt, beginnt sich das Rad des Lebens zu drehen. Es dreht sich nur deshalb, weil es den Gegensatz gibt: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Stille und Klang, Leben und Tod.
Den Gegensatz zu leben ist nicht bequem. Es bedeutet Hitze und Kälte zu spüren und nicht immer wohltemperiert zu leben. Es heißt, Konflikte anzusprechen, anstatt immer gleicher Meinung zu sein.
Fasten und feiern, Anstrengung und Entspannung, aufnehmen und loslassen, Erfolge und Scheitern. Körper und Psyche sind für Belastungen gemacht, sie wollen gefordert werden, aber nicht in andauernder Eintönigkeit. Ständige Erreichbarkeit durch das Handy, immer gleiche Belastung des Fußgewölbes durch ebenen Asphaltboden, jeden Tag satt essen bis zum Anschlag, … immer das Gleiche ermüdet.
Wo bleibt die Herausforderung? Einmal wieder richtig frieren, den Hunger spüren, streiten, dass die Fetzen fliegen …, aber alles im Rahmen der großen Harmonie. Nach dem Frieren ist alles wohlig warm und gut durchblutet, nach dem Fasten schmeckt jede Kartoffel wie der süßeste Kuchen und der Streit möge zu einer größeren Erkenntnis geführt haben.
Den Gegensatz leben, heißt aber vor allem, Geist und Körper in Einklang zu bringen: als Mensch den höchsten Sinn zu suchen, der vorstellbar ist, das Dauerhafte und Unvergängliche hinter den Dingen aufspüren, um dann hier und jetzt in der Welt zu leben und sie zu einem besseren Ort zu machen. Echte Spiritualität bedeutet nicht, tatenlos in der Höhle zu meditieren, sondern Fußspuren in der Welt zu hinterlassen.
Harmonie bedeutet nicht öden Gleichklang, sondern Zusammenklang von Gegensätzlichem. Wie die unterschiedlichen Musikinstrumente des Orchesters, die eine Symphonie spielen, so ist auch jeder Mensch wie ein Instrument im Orchester der Menschheitsfamilie, das die schönste Musik darbieten könnte.
„Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näher zu kommen, so wenig wie Sonne und Mond zueinanderkommen oder Meer und Land. Wir zwei sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im anderen das sehen und ehren lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung.“
Hermann Hesse
In diesem Sinne wünsche ich mir eine neue Wissenschaft, die nicht nur eine Meinung zulässt, sondern durch lebhaften, respektvollen Austausch gemeinsam nach der Wahrheit strebt.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 171 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.
