Berufung –Brauchen wir das?

Berufung –Brauchen wir das?

Wofür es sich zu leben lohnt

Genau das heißt Ikigai. Es setzt sich aus iki = Leben und gai = Wert zusammen, der Wert unseres Lebens oder „Wofür es sich zu leben lohnt“.
Alte Japaner bringen es noch einfacher auf den Punkt: Das, wofür es sich morgens lohnt, aufzustehen. Das Ikigai-Modell ist eine Schnittmenge von vier wichtigen Lebensbereichen, die hier etwas vereinfacht dargestellt auf das Thema Beruf-Berufung zugeschnitten sind:
Die persönlichen Interessen – Was liebe ich? Die persönlichen Fähigkeiten – Was kann ich gut? Der Sinn von Tätigkeiten – Was braucht die Welt? Und die Situation am Arbeitsmarkt – Wofür werde ich bezahlt?
Je mehr diese vier Bereiche einander überlappen, umso besser.

Ikigai ist also eine Schnittmenge von Erfüllung und Zufriedenheit. Sie lieben etwas, was Sie gut können, was Sinn macht und wofür Sie auch noch bezahlt werden.

Ikigai

Begegnet man dem Konzept von Ikigai passiv, wird man damit nicht weiterkommen. Viele stellen sich die Fragen: „Was liebe ich denn überhaupt? Heute das, morgen etwas anderes! Und was kann ich wirklich gut? Es gibt doch überall Bessere! Und was macht denn überhaupt noch Sinn?“ Ikigai ist jedoch ein aktives Konzept: Denn lieben ist ein Verb, nicht nur ein Gefühl. Indem ich liebe, entsteht auch das Gefühl dazu. Indem wir uns für etwas interessieren, uns damit beschäftigen, es begreifen wollen und uns damit vertraut machen, lernen wir es lieben. Auch das Können liegt viel mehr an uns als wir glauben: Übung macht den Meister. Und schließlich der Sinn ergibt sich auch nicht bei jeder Tätigkeit automatisch.
Wir aber haben die Fähigkeit, den Dingen Sinn zu verleihen. Eines der Extrembeispiele für Ikigai ist Viktor Frankl. Als er 1942 ins KZ deportiert wurde, hatte er alles verloren: seine Familie, seinen Beruf, sein Hab und Gut, sogar seinen Namen. Nahe der Selbstaufgabe erkannte er, dass er sich die falsche Frage gestellt hat:

Nicht, was habe ich noch vom Leben zu erwarten, ist die Frage. Sondern, was erwartet das Leben von mir?

Dies ist der Quantensprung vom passiven Erleiden des Lebens mit seinen Umständen zum aktiven Gestalten. Viktor Frankl lernte nicht das KZ lieben, jedoch seine Mitgefangenen. Denn er entwickelte ein tiefes Mitgefühl, das ihm übermenschliche Kräfte verlieh. Er nutzte sein berufliches Können als Psychologe, nährte Hoffnung inmitten von Hoffnungslosigkeit, war Licht in der Dunkelheit. Er hatte wieder einen Sinn gefunden. Und die Dankbarkeit seiner Mitgefangenen war ihm Bezahlung genug. Viktor Frankl hatte selbst dem nackten Grauen Ikigai abgerungen, dieses „Wofür es sich zu leben lohnt“! In seinen Worten: „Trotzdem Ja zum Leben sagen!“

Vom Was zum Wie

Das Konzept von Ikigai macht uns unabhängiger vom „Was wir tun“. Zugegeben: Wir sind nicht Viktor Frankl. Aber wir stecken ja auch in keinem KZ. Wir haben möglicherweise eine Arbeit, die wir wenig lieben, die unserem Können nicht entspricht, die uns sinnlos erscheint. Aber wir machen sie, weil sie uns das Geld zum Leben einbringt. Muss das so bleiben? Wenn wir Ikigai anwenden, dann werden wir alles daransetzen, unsere Arbeit lieben.

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 158 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.