Das I Ging und die Charakterbildung: Die Wiederkehr des Guten

Was hat eine scheinbar willkürliche Aneinanderreihung von unterbrochenen und durchgezogenen Strichen mit unserem Charakter zu tun? Sehr viel, sagt ein altes chinesisches Weisheitsbuch und fordert uns gleichzeitig zur Vervollkommnung unseres Mensch-Seins auf.
Im chinesischen Weisheitsbuch I Ging, dem Buch der Wandlungen, sind neun ausgewählte Zeichen
(„Hexagramme“) der Bildung unseres Charakters gewidmet. Im Rahmen dieser Serie von Hexagrammen haben wir bereits die Hexagramme LÜ, das Auftreten, und KIEN, die Bescheidenheit, behandelt. In diesem Artikel geht es um das Hexagramm FU, die Wiederkehr beziehungsweise die Wendezeit.
Das Hexagramm FU, … zusammengesetzt aus den beiden Trigrammen KUN (oben) und DSCHEN
(unten):

Das Zeichen FU ist dadurch charakterisiert, dass ein lichter Strich von unten wiederkehrt und nach oben steigt. Dies steht symbolisch in Verbindung mit der Wurzel und dem Stamm unseres Charakters. Das Gute, das sich unten zeigt, ist zunächst noch unscheinbar, aber es ist stark genug, um sich allen Versuchungen der Umgebung gegenüber durchzusetzen.
Wenn es darum geht, den SINN der Welt zu verstehen, müssen wir unsere inneren Fähigkeiten aktivieren, sagt uns das I Ging. Bescheidenheit, Toleranz, Mäßigung, Geduld, Dankbarkeit und andere Tugenden mehr führen zu einer Festigung unseres Charakters, der starke Stamm steht auf einem festen Wurzelstock.
Das Urteil Die Wiederkehr. Gelingen.
Ausgang und Eingang ohne Fehl. Freunde kommen ohne Makel.
Hin und her geht der Weg.
Am siebten Tage kommt die Wiederkehr.
Fördernd ist es, zu haben, wohin man geht.
Das Zeichen FU deutet an, dass nach einer Zeit des Zerfalls die Wendezeit kommt. Das starke Licht, Symbol des Guten, tritt uns entgegen. Es gibt wieder Bewegung. Altes wird abgeschafft, Neues wird eingeführt, Vereinigungen von Gleichgesinnten bilden sich. Dieser Zusammenschluss entspricht der Zeit, jede egoistische Gesinnung sollte dabei ausgeschlossen werden. Diese Wiederkehr ist Teil der Natur. Die Bewegung ist kreisförmig. Der Weg ist in sich geschlossen.

Alle Bewegungen vollziehen sich in sechs Stufen. Die siebente Stufe bringt dann die Wiederkehr. Die Sieben ist die Zahl des jungen Lichts, die dadurch entsteht, dass die Sechs, die Zahl des großen Dunkels, sich um eins steigert. Damit kommt Bewegung in den Stillstand.
Was bleibt da noch für uns zu tun? Als kleine Anleitung zum Verständnis rät uns das I Ging:
„Erst nimm die Worte vor,
besinn dich, was sie meinen,
dann zeigen sich die festen Regeln.“

Nach jeder noch so lange andauernden Zeit des Stillstands und der Dunkelheit kommt eine Wende und das Gute, Lichte taucht wieder auf. Die Geduld, diesen Moment ohne verkrampfte Eile und Hast abwarten zu können, ist Teil unseres starken Charakters.
Die Wiederkehr bedeutet auch die Einsicht begangener Fehler und charakterlicher Mängel. In Verbindung damit steht der Wille nach einer Veränderung zukünftiger Handlungen. Die Grundlage dafür bilden Reflexion und Selbsterkenntnis.
EINE FU-ANEKDOTE:
Einst fragte der griechische König Menandros den buddhistischen Weisen Nagasena: „Wen trifft größere Schuld: denjenigen, der wissentlich eine böse Tat verübt, oder denjenigen, der, ohne es zu wissen, eine böse Tat verübt?“
Nagasena antwortet: „Denjenigen, der, ohne es zu wissen, eine böse Tat verübt, trifft größere Schuld.“
Anmerkung: Wer eine böse Tat begeht und sie als solche erkennt, wird eher von ihr ablassen als derjenige, der diese Erkenntnis nicht hat. Daher bilden Einsicht und Erkenntnis wirkungsvolle Heilmittel auf dem Weg zum Guten.

Literaturhinweis:
Wilhelm, Richard. I Ging. Das Buch der Wandlungen (German Edition). Anaconda Verlag
Milindapanha, O. W. Barth Verlag, 1998
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Serie der „Neun Hexagramme der Charakterbildung“ im I Ging, beginnend mit der Ausgabe 176.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 178 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.