Einheit in der Vielfalt

Einheit in der Vielfalt

Vielfalt

Warum ist dies so schwierig?

Im Buddhismus erklären die sogenannten Nidanas die Komplexität der Existenz. Die Wurzel allen Übels liegt dabei in der Unwissenheit. Übertragen auf unser Thema ist Unwissenheit mit Sicherheit eine Hauptschwierigkeit. Die Unwissenheit bezüglich der unterschiedlichen mentalen Strukturen bei Mann und Frau – naturgegeben oder sozial bedingt, ist dabei egal – führen zu Verständnisschwierigkeiten in Beziehungen. Statt Ergänzung und Harmonie der Gegensätze gibt es Widerspruch und Streit. Auf kollektiver Ebene gibt es Unwissenheit gegenüber anderen Riten und Gebräuchen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal über das selbstverständliche Schlürfen eines Japaners beim Nudelessen gewundert. Oder einen Japaner beleidigt, indem sie ihm im Gespräch in die Augen geschaut haben. Dass wir einen Moslem durch Verhöhnung des Propheten im Innersten kränken, ist für einen säkularisierten westlichen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, schlicht unverständlich.

Damit jedoch Unwissenheit und gegenseitiges Unverständnis zu offener Feindschaft und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, braucht es mehr. Da ist zunächst der Egozentrismus. Egozentrismus hat die Selbsttäuschung zur Folge. Man rechtfertigt und verherrlicht sich selbst und wälzt die Ursache allen Übels auf andere ab. Egozentrismus bedeutet auch fehlender Abstand von sich selbst und damit fehlende Selbstkritik. Wer aber gegenüber seinen eigenen Fehlern und Schwächen blind ist, ist im selben Maße unbarmherzig gegenüber den Fehlern und Schwächen der anderen. Auf kollektiver Ebene führen Ethno- und Soziozentrismus zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismen. Auch hier werden die anderen zu Schuldigen, man begegnet den anderen mit Arroganz und Verachtung. Eine Einheit in der Vielfalt wird dadurch verunmöglicht.

Egozentrismus

Weiters verhindern reduktionistische und dualistische Denkweisen das gegenseitige Verständnis und damit die Einheit in der Vielfalt. Dualistische Ansätze machen aus Verschiedenheiten unvereinbare Gegensätze, die Welt wird als ein Kampf zwischen konträren Kräften verstanden: Der Westen gegen den Osten oder gegen den globalen Süden, die Schwarzen gegen die Weißen, Männer gegen Frauen, rechts gegen links, arm gegen reich, Impfgegner gegen Impfbefürworter. Reduktionistische Ansätze vereinfachen jede Vielfalt. Eine vielfältige Persönlichkeit wird auf einen Charakterzug reduziert. Beispielsweise blenden Trump-Fans alle negativen und Trump-Gegner alle positiven Aspekte aus. Dadurch kommt es zu einem regelrechten Besessen-Sein von einer Person, einer Idee, einem Glauben, was wiederum das Verständnis einer anderen Person, einer anderen Idee oder eines anderen Glaubens verunmöglicht.

All diese Hindernisse stammen aus einer Form von niederem, kalkulierendem, auf den eigenen Vorteil und die eigenen Wünsche ausgerichtetem Denken. Welcher Art wäre dann das Denken, das die Gegensätze harmonisiert und zu einer Einheit in der Vielfalt führt?

Neu denken lernen

In den fernöstlichen Schulen sprach man im Zusammenhang mit dem niederen Denken vom „Irrwahn des Getrenntseins“. Um zu einer höheren Ein-Sicht und damit zu einem Verständnis von Einheit in der Vielfalt zu kommen, wurde der Schwerpunkt auf Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber allen Wesen gelegt. Man erlangt dadurch ein Verständnis, das frei von gegenseitiger Erwartung ist. Man versteht selbst den Besessenen, der unfähig ist zu verstehen. Man versteht den Impfgegner und den Impfbefürworter, den Trump-Verehrer und den Trump-Gegner, den Russen und den Ukrainer, den Migranten und den Fremdenhasser. Nach Edgar Morin verlangt echtes Verstehen eine große Anstrengung, denn sie verlangt, auch die Verständnislosigkeit zu verstehen.

An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm.

Verbundenheit

In den großen westlichen philosophischen Schulen, bei Platon und bei Aristoteles, liegt der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit zugrunde. In der Spätantike, insbesondere im Neuplatonismus, zeigte sich eine eklektische Haltung. Es ist die Fähigkeit, aus den unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Dingen das jeweils Beste auszuwählen. Auch im frühen Christentum findet sich diese Haltung in der Devise von Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Dies erfordert ein höheres Denken, ein Denken aus der Vogelperspektive. Ein Denken, das nicht reduziert, sondern inkludiert. Hier stehen sich die Gegensätze nicht feindselig gegenüber, sie verbinden sich in einer Harmonie des Gegensatzes. Die Internationalität und Nationalität stehen sich nicht feindselig gegenüber, sondern im Bewusstsein der heimatlichen Werte, Qualitäten und Schönheiten sieht man sich selbst als Teil des Heimatlandes Erde. Der Norden, der Technik und Wirtschaft hoch entwickelt, aber viel an Lebensqualität verloren hat, schätzt den Süden, der die Lebensqualitäten noch pflegt. Und umgekehrt. An die Stelle der Trennung tritt die Verbindung. Nicht, was stört mich am anderen, sondern was schätze ich an ihm. Nicht, was trennt mich vom anderen, sondern was haben wir gemeinsam.

Nach Edgar Morin braucht es dafür eine Erziehung der Zukunft. Eine Erziehung, die die menschliche Einheit rettet, und die zugleich die menschliche Vielfalt rettet. Eine Erziehung, die die Komplexität des Menschen versteht: den vernünftigen und den ekstatischen, den arbeitenden und den spielenden, den kriegerischen und den friedliebenden, den sparsamen und den verschwenderischen, den rationalen und den magischen. Unsere Zukunft ist neu zu denken. Albert Einstein werden dazu folgende Worte zugeschrieben: 

Tun wir nicht so, als ob sich die Dinge ändern würden, wenn wir immer das Gleiche tun.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 177 (2024) des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.