Mut zum Schatten

Mut zum Schatten

Schatten

Warum es sich auszahlt, in ihn hineinzuspringen

Alle diplomatischen Bemühungen scheinen erfolglos geblieben zu sein. Ein russischer Einmarsch steht unmittelbar bevor. Zahlreiche Länder haben ihre Botschafter aus der Ukraine abgezogen …“ Gerade kam diese Meldung im Radio. Wenn Sie das lesen, gibt es vielleicht schon Krieg. Und wieder einmal ist den Gegnern nicht bewusst, dass sie im anderen vor allem sich selbst bekämpfen … Der Kampf zwischen Gut und Böse ist uralt.
In allen Menschheitsmythen tauchen diese Gegensätze auf. Als Held und Drache wie bei Georg, Herakles, Theseus. Als Geschwisterpaar wie bei Kain und Abel, Osiris und Seth oder Inanna und Ereschkigal.
Der große Kenner des Unbewussten, C. G. Jung, zeigt in seiner Psychologie auf, dass all diese Erzählungen auf eine grundlegende menschliche Aufgabe hinweisen: auf die Integration des Schattens, unserer unbewussten dunklen Seelenanteile.
Die Integration des Schattens ist ein Teil des Individuationsprozesses, bei dem der Mensch seine seelische Ganzheit erobert. Die einzelnen Schritte habe ich in dem Artikel „Wie konnten wir unsere Seele vergessen?“ in Abenteuer Philosophie Nr. 166 erklärt. Ein unerlässlicher Schritt zur LebensKunst Ganzwerdung des Menschen ist die Auseinandersetzung mit dem Schatten. Im Schatten finden sich laut Jung alle dunklen Charakterzüge und dunklen Aspekte der Psyche, verdrängte, minderwertige und schuldhafte Anteile der Person, die bisher unbewusst herrschten.
Es sind nicht nur die kleinen Schönheitsfehler und Schwächen, sondern alle niederen Persönlichkeitsanteile mit hoher Triebhaftigkeit. Einerseits widert der Schatten uns an und andererseits fasziniert er und zieht uns magisch an. Es verbergen sich viele Schätze in den dunklen Tiefen, wie wir auch in zahlreichen Märchen erfahren. Zum Beispiel unbekannte Talente, kreative und schöpferische Impulse, Intuitionen etc.
„Der Schatten ist ein Wesen, das uns ängstigt, das wir lieber nicht wären, aber zum Schluss doch werden müssen“, sagt Jung. Und an einer anderen Stelle meint er: „Ich bin lieber ganz als gut.“ Wenn Sie sich dieser Aussage anschließen, dann lassen Sie uns eintreten in das dunkle Schattenreich.

Katze-Schatten

WIE ENTSTEHT DER SCHATTEN?

„Der Schatten beginnt mit der frühesten Herauslösung eines ,Ich‘ aus dem großen Einheitsbewusstsein, aus dem wir alle kommen. Der Schatten entwickelt sich parallel zum Ego. Was nicht zu unserem sich entwickelnden Ich-Ideal passt – unserem idealisierten Selbstbild, das von der Familie und der Kultur individuell geprägt wird –, das wird zum Schatten“, schreibt Debbie Ford in ihrem Buch „Schattenarbeit“. Und weiter: „Der Dichter und Autor Robert Bly nennt den Schatten „den langen Sack“, den wir hinter uns herziehen“.
„Bis zwanzig verbringen wir unser Leben damit zu entscheiden, welche Teile von uns wir in den Sack stecken“, sagt Bly, „und den Rest unseres Lebens versuchen wir, sie wieder herauszuholen.“
Beispielsweise sind in vielen Familien Gefühle wie Wut und Ärger unterdrückt, das Kind muss immer sauber, brav und glücklich sein. In der Schule werden alle Fehler rot angestrichen. In der Peer-Group muss man cool sein, darf keine Angst zeigen, raucht Cannabis und betrinkt sich, um dazuzugehören. Im Job gibt es ehrgeizige Kollegen, also gibt man sich trotz vieler Fragen souverän.
So finden sich hinter einer Maske der Coolness und Sicherheit verletzliche, unsichere und liebesbedürftige Menschen, die Angst haben, Fehler zu machen und sie deshalb auch nicht zugeben, sondern alles Unerwünschte auf andere projizieren.

Kind-Schatten

WIE ERKENNT MAN DEN SCHATTEN?

Durch Bewusstmachung, die laut Jung eine Lebensaufgabe jedes Menschen ist. Zuerst muss man akzeptieren, dass man Schattenseiten hat und vor allem, dass man vieles von sich selbst nicht weiß. Und dann ist es wichtig, die eigenen inneren Prozesse zu beobachten und Verantwortung für seine Reaktionen zu übernehmen. Häufig projiziert man den Schatten auf andere Menschen und bekämpft ihn im Gegenüber – bis hin zu Kriegen. Die Geschichte der Menschheit zeigt dies auf verheerende Weise …
Man erkennt den Schatten durch Versprecher, Fehlhandlungen und Fantasiebilder. Durch unser Verhalten im Internet – auf welche Seiten gelangen wir unbewusst … Verhaltensweisen, die uns am anderen besonders nerven, sind oft eigene projizierte Schwächen. Sehr nützlich ist es auch, Freunde und Bekannte zu fragen. Die wissen meist mehr über die eigenen Schattenseiten als man selbst. Außerdem geben uns Mythen wesentliche Hinweise und so betrachten wir einen uralten sumerischen Mythos.