Mut zum Schatten

Mut zum Schatten

Schatten

DER MYTHOS VON INANNA UND ERESCHKIGAL

Die beiden sind Schwestern. Inanna ist Königin und wird von Ereschkigal, Herrscherin der Unterwelt, zu sich gerufen. Auf ihrem Weg muss sie sieben Pforten durchschreiten, und an jeder muss sie etwas ablegen, zuerst ihre Krone, dann den Brustpanzer, ihre Juwelen, die Richtschnur und schließlich ihre Gewänder, bis sie nackt und bloß vor Ereschkigal steht. Diese ist jedoch keineswegs erfreut, tötet ihre Schwester, hängt sie an einen Pfahl und lässt sie verwesen. Nach drei Tagen kommen mythische Wesen aus der Oberwelt und besänftigen Ereschkigal, indem sie ihre Wut und Verzweiflung ernst nehmen, ihr Mitgefühl schenken und mit ihr klagen. Daraufhin gibt Ereschkigal den Leichnam heraus, dieser wird wiederbelebt und Inanna kann in die Oberwelt zurückkehren.

WAS BEDEUTET DER MYTHOS FÜR DIE SCHATTENARBEIT?

Wir alle sind Königinnen oder Könige mit Krone, Schmuck, Brustpanzer, Gewändern – also unseren Masken und Besitztümern, mit unserem Ansehen in der Welt, der Macht über das Denken und Fühlen der anderen. Die Richtschnur steht symbolisch für Vergleichen und Beurteilen. Doch all diese Äußerlichkeiten zählen nicht angesichts des Schattens. Ereschkigal ist unser Schatten, unsere Wut und Verzweiflung, unsere eigenen unterdrückten Gefühle, Enttäuschungen, unser Scheitern. Ereschkigal ist auch Ausdruck unserer dunklen, triebhaften, vom Bewusstsein verdrängten Persönlichkeitsanteile.
Wenn wir sie annehmen als Teil unserer selbst, unsere scheinbaren Sicherheiten (Krone, Schmuck) aufgeben und uns sehen, wie wir wirklich sind, – nackt und bloß – beginnen Heilung und Ganzwerdung.
Entscheidend sind die drei Tage am Pfahl. Ein verbreitetes Motiv in den Heldenmythen. Drei Tage in der Unterwelt. Hart, aber glorreich. Nur die Mutigen wagen es. C. G. Jung dazu: „Wenn man sich jemanden vorstellt, der tapfer genug ist, die Projektionen seiner Illusionen allesamt zurückzuziehen, dann ergibt sich ein Individuum, das sich eines beträchtlichen „Schattens“ bewusst ist. Ein solcher Mensch hat sich neue Probleme und Konflikte aufgeladen. Er ist sich selbst eine ernste Aufgabe geworden, da er jetzt nicht mehr sagen kann, dass die andern dies oder jenes tun, dass sie im Fehler sind und dass man gegen sie kämpfen muss. Er lebt in dem ‚Hause der Selbstbesinnung‘, der inneren Sammlung.
Solch ein Mensch weiß, dass das, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selbst ist, und wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er was Wirkliches für die Welt getan. Es ist ihm dann gelungen, wenigstens einen allerkleinsten Teil der ungelösten riesenhaften Fragen unserer Tage zu beantworten.“
Es klingt unglaublich, aber die Erlösung des Schattens in einem selbst trägt zum Weltfrieden bei, denn alle Kämpfe und Kriege sind Ausdruck von Projektionen.

Mensch-Schatten

DAS SPIEL DER WANDLUNGEN

Was kann ich tun, um Projektionen zu erkennen? Rüdiger Dahlke empfiehlt in seinem Buch „Das Schattenprinzip“ das Spiel der Wandlungen. Unsere Projektionen sind eine große Chance, denn hinter ihnen verbirgt sich unser Schatten. Wenn wir sie zurücknehmen, übernehmen wir die Verantwortung für unsere eigenen Reaktionen.
Es ist ein Spiel mit Fürwörtern, wo man seine Anklagen und Vorwürfe in entwicklungsförderliche Hinweise für sich selbst verwandelt. Dies gelingt mit vier einfachen Schritten.
Nehmen wir die Aussage: „Er/sie behandelt mich schlecht“ (a). Wenn ich den Schatten enthüllen will, kann ich das auch noch so betrachten: „Ich behandle ihn/sie schlecht“.
(b), „Ich behandle mich schlecht“ (c) und „Er/sie behandelt sich schlecht (d).
Sie können dieses Spiel mit irgendeiner Aussage aus Ihrem Leben probieren:
(a) Er/ sie …………… (hier kommt Ihr Verb) mich.
(b) Ich ………. (wieder Ihr Verb) sie/ihn.
(c) Ich ……………… (Ihr Verb) mich.
(d) Er ……………… (Ihr Verb) sich.
Ich weiß, dass es ein bisschen Zeit braucht, bis man das versteht und bis es klappt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es sehr hilfreich ist. Und unglaublich befreiend. Denn man geht aus der Opferhaltung und übernimmt Verantwortung für das eigene Denken, Handeln und Tun. Nichts macht freier, als wenn man sich nicht mehr von anderen abhängig fühlt. Sehr viel Lebenskraft wird frei, die man zum Aufrechterhalten der Maske brauchte. Man gewinnt Ich- Sicherheit, Vollständigkeit und Authentizität. Und bekommt überraschende Perspektiven auf den anderen.

WEITERE PRAKTISCHE TIPPS

  1. Den eigenen Schatten akzeptieren:
    Licht und Schatten sind zwei Pole in der manifestierten Welt. Unser Schatten ist natürlich und gehört zu uns, in ihm verbergen sich Schätze. Es zeugt von Selbstsicherheit, entspannt mit seinen Unvollkommenheiten umzugehen.
  2. Entschluss zur Schattenarbeit:
    Die hervorstechende Eigenschaft jedes Helden ist der Mut. Man braucht ihn, um sich dem inneren Drachen zu stellen. Es ist ein langsamer, mühevoller Bewusstseinsprozess, der sich lohnt.
  3. Selbstbeobachtung:
    Die eigenen Emotionen wahrnehmen:
    Was nervt mich an anderen, regt mich auf? Wenn ich sehr gereizt reagiere, projiziere ich wahrscheinlich.
  4. „Schattengespräche führen“:
    Die mir nächsten Menschen kennen meinen Schatten oft besser als ich selbst. Ich kann meine Familie, meinen Partner oder Freunde bitten, meine drei positivsten und drei negativsten Eigenschaften zu benennen.

    Alles Gute für Ihren Gang in die Unterwelt wünscht Gudrun Gutdeutsch

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 168 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.

LITERATURHINWEIS:
Lexikon Jungscher Grundbegriffe, Walter Verlag
Rüdiger Dahlke: Das Schattenprinzip
Jean Shinoda Bolen: Krankheit und die Suche nach dem Sinn