Osiris, du fliegst als Schatten

An den Wänden des Hathor Tempels in Dendera und im Osireion in Abydos befinden sich die Hieroglyphentexte mit detaillierten Angaben zum Ritual des Mysteriums. All diese gut erhaltenen, aber schwer zu lesenden Inschriften, wurden von Sylvie Cauville übersetzt und kommentiert.
Auf dem Dach des Hathor-Tempels befinden sich sechs Kapellen, in denen das Mysterium vollzogen wurde.

Der Ablauf folgte folgendem Schema:

Die kultischen Handlungen an der Ostseite des Daches finden vom 12. bis zum 23. Khoiak statt. An den Wänden der Aufgänge befinden sich Abbildungen der Prozession teilnehmender Gottheiten und Priester durch die Kapellen.
In der zweiten Ost-Kammer, unter dem steinernen Sternenhimmel des Tierkreises, stellen die Priester für die pflanzliche Wiedergeburt des Osiris in Hohlformen aus Gold zwei Hälften einer 52,5 cm langen Figur des Osiris her. Die Formen werden mit einem Gemisch aus Schlamm, Gerstenkörnern, wohlriechenden Ingredienzien und pulverisierten Edelsteinen ausgekleidet. In Schiefertanks werden sie neun Tage lang mit heiligem Wasser aus einem goldenen Gefäß in Urnenform bewässert, bis die Gerstenkörner keimen.
Der osirische Himmel an der Decke lädt während der vollzogenen Riten die Figurhälften mit kosmischer Kraft auf.
Eine Inschrift in Form einer Legende läuft an der Decke der Kapelle um den Himmel des Tierkreises herum:
Der goldene Himmel,
der goldene Himmel,
das ist die große Isis,
die Mutter des Gottes,
die Herrin der Hütte-wo-die-Göttin-auf-
die-Welt-gebracht-wurde,
die in Dendera ihren Platz einnimmt,
das ist der goldene Himmel.
Die großen Götter sind seine Sterne:
Harsiesis, ihr Gott des Morgens
(= Venus), Sokar, seine Milchstraße,
Der Jüngling Osiris,
sein sichtbarer Stern
(= Canopus, Kiel des Schiffes),
Osiris, sein Mond,
Orion, sein Gott,
Sothis, seine Göttin (= Sirius),
sie gehen für die Toten
in das Tal der Unterwelt hinein
und aus ihm heraus.
Während des Keimens, symbolisch für die menschliche Empfängnis, löst sich die Seele des Osiris von ihrer irdischen Hülle:
Du trittst als Seele hervor,
du fliegst als Schatten (Khabit),
du lässt dich als glorreicher Geist nieder,
um deinen Leichnam zu sehen,
du lässt dich auf dieser deiner Statue
nieder und lebst für die Ewigkeit.
Während der Schwangerschaft reift der pflanzliche Embryo in diesem Simulacrum (Abbild) heran. Ein ganzes Arsenal an Schutzkräften soll ihn vor den Angriffen des Seth schützen.
In der dritten Ost-Kammer werden am 21. Khoiak anlässlich der symbolischen Geburt des Gottes die beiden Hälften der Figur aus ihrer Hohlform herausgenommen, zusammengesetzt, mit Schnüren umwickelt und einen Tag lang in der Sonne trocknen gelassen.

Die rituellen Handlungen in den westlichen Kapellen finden darauf vom 24. Khoiak bis zum Ende des Monats statt.
In der West-Kammer Nr. vier wird die Figur des Osiris am 24. Khoiak wie ein menschlicher Körper gesalbt und einbalsamiert, zusammen mit 104 Amuletten aus Gold und Edelsteinen, die in die Binden der Mumie eingebunden werden. Zwei Statuen von Anubis mit dem Kopf eines Schakals führen fiktiv die Riten in dieser geheimsten aller Kammern durch.
Die westliche Kapelle Nr. fünf dient der Vorbereitung des Grabes und zur Rezitation von Schutzformeln aus dem Buch der Toten.
In der westlichen Kapelle Nr. sechs findet im Morgengrauen des 26. Khoiak die Auferstehung des toten Gottes als Vollmond, als „kleine Sonne“, statt.
An diesem Tag beginnt in Ägypten das Fest der Feste. Die göttliche Barke wird in einer Prozession von West nach Ost um die Mauern des Tempels herumgeführt und die Route verschmilzt mit dem kosmischen Weg. Osiris hat den Tod überwunden und präsentiert sich in seiner ganzen Unversehrtheit. Die aufgeladene Figur schützt den Tempel ein Jahr lang. Danach wird sie begraben, um Platz für eine neue zu machen.
In Ägypten wurden so jahrhundertelang Abbilder aus Gerste hergestellt. Der Gerstenembryo diente als Ersatz für Osiris, um sich zu manifestieren. Der Teig symbolisierte die Materie, die mit Gerste gemischt, unter alchemistischen Beschwörungsformeln umgewandelt wurde in den Körper des Gottes selbst. So transmutiert der Körper aus Staub in ein glorreiches Geisteswesen.
Osiris ist die Götter, er ist der Nil, er ist Ägypten, er ist das Leben.
Zur Zeit des Tempelbaus fällt nur der Vollmond im Jahr 47 v. Chr. auf einen 26. Khoiak. An diesem Tag, in unserem Kalender am 28. Dezember, war der Mond nicht nur voll, sondern stand auch im Zenit. Das Zusammentreffen der drei Umstände – 26. Khoiak, Vollmond und Zenit – kommt nur alle eineinhalb Jahrtausende vor. Die Priester erkannten die Einzigartigkeit dieses Ereignisses. In dieser Nacht geht auch Jupiter genau in der Achse des Tempels auf, in der Sirius während der feierlichen Gründung im Jahre 54 v. Chr. erschienen war.
Das Bildnis des Vollmonds wird im Steinrelief daher auf beiden Seiten von Jupiters Namen flankiert. Als Jupiter morgens am Himmel erschien, ging Orion im Westen unter. Osiris hat also in all seinen Aspekten triumphiert, Mond, Orion, Canopus und Jupiter, um am frühen Morgen seinem Erben Re, der Sonne, Platz zu machen. Diese zwei Wochen (vom 14. bis 28. Dezember 47 v. Chr.) wurden in Stein verewigt, als eine wunderbare Hommage an den triumphierenden Gott, der Ägypten ewiges Leben garantiert.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 174 (2024) des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.