Kairos – Vom Leben im richtigen Augenblick
Kennen Sie Kairos? Den Gott der günstigen Gelegenheit? Wohl eher nicht, denn heute sind wir in den Fängen des Kronos – des alten Mannes mit der Sanduhr, der unbarmherzig die Sekunden, Minuten, Stunden zählt. Sein jüngster Bruder Kairos mit dichtem Haarschopf und geflügelten Füßen ist der Gott des rechten Augenblicks, den man beim Schopfe packen muss, bevor er entwischt.
Er steht für die Zeitqualität, die sich in allen inspirierenden Momenten des Kunsterlebens, der Lektüre, des tiefen philosophischen Gesprächs, der Versunkenheit der Verliebten, der intuitiven Erkenntnis – also dem Aufgehen im Hier und Jetzt manifestiert.
Sein Gegenpol ist Kronos, der dem Chronometer, der Uhr, den Namen gegeben hat. Seit dem 14. Jahrhundert wird er als bärtiger Greis mit Sichel und Stundenglas dargestellt. Und bis zum Ende der Renaissance erfreute sich auch sein Gegenspieler Kairos großer Bekanntheit bei Philosophen, Dichtern und Künstlern, aber auch Ärzten und Theologen. Er symbolisierte die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und Entschlossenheit, die das Leben so spannend machen. Dann verschwand er leider von der Bildfläche. Warum?
Das mechanistische Weltbild trat auf den Plan
Demnach sind alle Vorgänge in der Natur durch automatisch ablaufende Bewegungsgesetze bestimmt. Diese Vorstellung gipfelte in der Idee des Determinismus, nach dem sich alle Prozesse in der Welt als riesige Maschine vollziehen, auf die der Mensch keinen Einfluss hat. Dieses Weltbild prägte das 16. – 19. Jahrhundert. Seitdem setzt sich – auch dank der Relativitätstheorie und der Quantenphysik – glücklicherweise die Idee des lebendigen, organischen Weltganzen wieder durch.
In der griechischen Mythologie war Kairos der jüngste und ein rebellischer Enkel des Kronos. Dargestellt wurde er als junger, starker und muskulöser Mann mit der Gabe, Veränderung hervorzurufen.
Und damit tritt auch Kairos wieder auf die Bildfläche. In der griechischen Mythologie war Kairos der jüngste und ein rebellischer Enkel des Kronos. Dargestellt wurde er als junger, starker und muskulöser Mann mit den Gaben, Veränderung, Einsicht und Umkehr hervorzurufen. Und solch eine Zeitqualität erleben wir heute! Das materialistische und atheistische Weltbild verliert seine Kraft. Wir befreien uns allmählich von Kronos, der die Stunden unerschütterlich verrinnen lässt, Ordnung und Struktur erzeugt, aber auch die ewige Wiederholung des Gleichen bewirkt. Und wir sind offen und neugierig auf eine neue (Zeit)Erfahrung voll neuer Möglichkeiten.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich die Philosophen wieder mit Kairos. Paul Tillich erklärte, dass die chronologische Zeit homogen und leer ist, weil sie weder die Veränderungen der Welt noch die subjektive Zeiterfahrung berücksichtigt. Wie recht er hat, haben Sie sicher schon bemerkt: Eine Stunde auf dem Zahnarztstuhl ist ein völlig anderes Erlebnis wie eine anregende Stunde mit Freunden. Heidegger schrieb, dass sich im Kairos-Moment das „Ereignis“ als authentisches Erlebnis des Daseins manifestiert. Es ist die beste Gelegenheit, um eine Wende herbeizuführen.
Eine Wende, die wir heute so dringend brauchen und die in vollem Gange ist! Immer mehr Menschen suchen alternative Lebensweisen in Gemeinschaften, der Bio-Boom mit regionalen Lebensmitteln weitet sich immer mehr aus und auch die „Slow-Bewegungen“ zeigen uns allenthalben, dass wir aus der Getriebenheit und Hetze aussteigen sollen. Und Achtsamkeitskurse erfreuen sich großer Beliebtheit.
Wie erschafft man nun einen Moment des Kairos?
Präsenz im Hier und Jetzt, innere Ruhe und das genaue Abwägen von Argumenten und Umständen sind wichtige Voraussetzungen, einen Kairos-Moment zu erzeugen. Man braucht das richtige „Timing“ für das Ergreifen der günstigen Gelegenheit, jedoch auch eine gewisse „Passivität“, ein Sich-Hingeben dem Sein im Hier und Jetzt. Die Zeit wird weit und voller Möglichkeiten. Man ist ganz in der Gegenwart, vergisst Raum und Zeit und lebt ganz im Augenblick, der eine ungeahnte Erfahrung zulässt.
Ein spannendes Erlebnis diesbezüglich hatte der Philosoph und Zauberkünstler David Abram. Einst verdiente er sein Geld als Hausmagier in einem Restaurant in Massachusetts, ging von Tisch zu Tisch und zeigte seine Tricks. Er ließ Münzen wandern und verschwinden, sie tauchten unerwartet wieder auf – ganz oder zweigeteilt etc. An einem Abend kamen zwei Gäste zurück, die das Lokal vor Kurzem verlassen hatten, und fragten ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck, ob er ihnen etwas ins Getränk gemischt hätte? Denn der Himmel habe so ungewöhnlich blau ausgesehen und die Wolken so groß und lebendig. Andere Gäste berichteten, dass der Verkehr lauter, die Straßenlampen heller, der Regen erfrischender gewirkt hätte …
David erklärte sich das Phänomen folgendermaßen: Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Prägungen bestimmt. Wir verwenden unsere im Gedächtnis vorhandenen Bilder, und dies erfordert weniger kognitive Leistung, als wenn man aus dem Nichts neue Wahrnehmungen erzeugt. Unsere Erwartungen schaffen blinde Flecken und in denen agiert der Zauberer. Wenn er in eine Richtung weist, folgen ihm alle Blicke, und in der Zwischenzeit „trickst“ er mit der anderen Hand. Wenn die Münzen sich ständig unerwartet verhalten, wird unsere Wahrnehmung aufgelockert. Und wenn Menschen dann das Restaurant verlassen, ist der Himmel blauer und die Wolken lebendiger, wie sie in diesem Augenblick – dem Kairos-Moment – tatsächlich sind. Sie schauen wieder einmal genauer hin und können wieder staunen. STAUNEN ist der Anfang der Philosophie …
Philosophieren – im Sinne der Naturphilosophie – ist eng mit Kairos verbunden
Wir treten aus dem Zeit-Raum-Kontinuum mit seinen Prägungen heraus und schauen mit den Augen von Kindern. Mit einem ganz frischen Blick (Kinder sind übrigens gefährlich für Zauberkünstler, weil sie noch genau hinschauen und sich nicht so leicht an der Nase herumführen lassen), als hätten wir die Dinge noch nie gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt. Wenn wir im Frühjahr an einer Blume schnuppern, fragen wir Philosophen uns, wie sie den Duft erzeugt. Wie entsteht Duft? Wie funktioniert die Wahrnehmung des Riechens? Vielleicht forschen wir dazu im Internet, aber es geht nicht immer um die Antworten. Sondern um die Fragen, das Staunen. Und die Freude darüber. Denn der Enthusiasmus ist eng mit Kairos verbunden und das achtsame Erleben des Hier und Jetzt.
In unseren Breiten erleben wir die Qualitäten der Jahreszeiten und können staunen und dankbar genießen: Wenn wir im Sommer die Sonnenwärme auf der Haut spüren, können wir uns fragen, warum das so wohltuend ist. Was passiert im Körper? Und vielleicht fällt uns ein, dass Menschen, die z. B. in Mittelamerika im ewigen Sommer leben, fröhlicher und positiver sind. Dann fragen wir uns womöglich, wie wir diese Sonnenenergie in uns erzeugen können … Im Herbst bewundern wir die Farben des „Indian Summer“ und im Winter den Duft von Gewürzkuchen.