Treppen: Aufwärts oder abwärts und doch immer vorwärts
Treppen sind von und für Menschen geschaffene Bauwerke, um Höhenunterschiede in kleine Abschnitte zu unterteilen. Eine anscheinend unüberwindliche Höhe oder Tiefe lässt sich Stufe für Stufe gut bewältigen. Die deutschen Wörter Treppe und Stufe stehen etymologisch in Beziehung zu dem Geräusch, das stapfende, trampelnde und trippelnde Füße beim Hinauf- und Hinunter-Steigen verursachen. Jeder, der einen Turm hinaufsteigt, hat den Drang mitzuzählen, um nicht nur das subjektive Gefühl von Höhe zu spüren, sondern auch dem Verstand eine objektive Zahl als messbaren Wert zu geben. Bei den Worten Skala und Grad denken wir an Thermometer oder andere Messinstrumente mit ihren gleichmäßig unterteilten Abschnitten, doch „scala“ und „gradus“ sind lediglich die lateinischen Wörter für Treppe und Stufe.
Ausdruck von Macht
Herrscher aller Zeiten nutzten Treppen, um ihre Macht und ihre Vorstellung von Hierarchie darzustellen. Schlösser und Residenzen erhielten bewusst eine Prunk- oder Paradetreppe, obwohl ein ebenerdiger Zugang möglich wäre. Die Treppe erzeugt künstlich ein Hindernis und eine Höhe, die den Abstand zwischen dem Herrscher und den einfachen Volk der Untertanen sichtbar macht. Auch den Ministern oder Bediensteten ist nur eine bestimmte Stufe unterhalb des Herrschers erlaubt. Wer in der Gunst oder Karriere aufsteigt, darf konkret eine Stufe höher und näher beim Herrscher stehen. Für den Abstieg gilt das gleiche Bild. Wer durch eine Verfehlung die Gunst verliert, wird herabgestuft und degradiert.
Ideale Treppen nur für Götter
In unserer Vorstellung sind Treppen gleichmäßig gezackte geometrische Linien. Wenn wir tatsächlich die Stufen einmal messen, ist die Höhe niedriger als die Tiefe. Dies liegt am Körperbau des menschlichen Beins und dadurch an der Schrittweite. Die Schrittweite ist das Verhältnis von der Länge für den Auftritt des Fußes und der Steigung, also dem Höhenabstand zur nächsten Stufe. Dieses Verhältnis muss nahe am Goldenen Schnitt liegen, wenn eine Treppe für Menschen als angenehm begehbar empfunden wird, ganz gleich, wo in der Welt oder von welcher Kultur die Treppe gebaut ist.
Bemerkenswert bei der Architektur der Stufenpyramiden der Maya und Azteken sowie in der Tempelanlage von Angkor Wat (Kambodscha) ist, dass hier die Stufen geometrisch bevorzugt gleiche Abstände haben, also die ideale Treppe unserer Vorstellung entsprechen. Gottheiten haben keine anatomischen Probleme. Sie sind Wesen einer idealen Ebene und so kann nur eine ideale Treppe angemessen sein, wenn wir ihnen einen Weg bauen, über den sie von der himmlischen Höhe auf die irdische Ebene zu uns herabsteigen sollen. Für uns Menschen sind die Stufen dieser Göttertreppen unangenehm hoch oder die Auftrittsfläche zu klein.
Symbol für den Entwicklungsweg
Alle Kulturen nehmen das Bild von Stufen und Treppen, um einen Weg der Entwicklung darzustellen. Ob äußere Karrierestufen und Dienstgrade oder die acht Stufen des Yoga für einen inneren Entwicklungsprozess. Stufen und Treppen zeigen, dass mit jedem Schritt eine neue Ebene erreicht ist, und dass man zunächst wieder sicheren Halt als Zwischenziel hat. Jedes Mal gibt es eine Stufe, die nur nach Erwerb von Fähigkeiten, Kenntnissen und bestandenen Proben erreicht wird.
- Isis, die altägyptische Göttin der Liebe, Weisheit und Magie, die die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins fördert und begleitet, wird mit zwei Stufen auf dem Kopf dargestellt.
- Im Werk der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri, das als Vorbild vieler Künstler diente, wird der Abstieg durch moralischen Verfall in Form von Stufen bis zum untersten Höllengrund dargestellt.
Aufwärts oder abwärts – rechts oder links herum
Treppen sind Bauwerke, um auf kleinsten Raum einen Zugang nach oben oder unten zu erreichen. Wendeltreppen führen uns dabei schnellstmöglich in die Höhe oder Tiefe. Aus Verteidigungsgründen sind sie nur eine Person breit und drehen sich, von unten kommend, meistens nach rechts im Uhrzeigesinn. Oft sind Wendeltreppen versteckt, gehören zu geheimen Gängen oder dienen rituellen Zwecken.
Es hängt von unserem Standpunkt ab, ob wir die Treppe als Aufstieg oder Abstieg betrachten, und von unserer Situation, ob der Aufstieg oder der Abstieg uns zum gewünschten Ziel bringt. Die Treppe selbst ist beides gleichzeitig. Sie ist ein Beispiel für das Sowohl-als-auch.
Faszinierend und empfehlenswert sind die Bilder des Malers und Grafikers M. C. Escher, der mit diesen Perspektiven und der Gleichzeitigkeit von hinauf und herab bei Treppen spielt.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 170 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.