Wie ein Baum – Warum die Treue wieder Wurzeln schlagen muss

Wie ein Baum – Warum die Treue wieder Wurzeln schlagen muss

Treue

Die Bedeutung der Treue geht weit über partnerschaftliche Liebesbeziehungen hinaus. Wem und was sind wir in unserem Leben treu? Wenn Sie sich einen treuen Menschen vorstellen, ist das eine anziehende Vorstellung? Unser Verständnis der Treue ist im Alltag oft oberflächlich, dabei ist sie ein fundamentaler Schlüssel zur menschlichen Entwicklung.

Über einen moralischen Wert zu schreiben, ist nicht leicht, ohne dabei ins Moralisieren zu kommen. Vor allem wenn es ein Thema ist, das sich so altbacken anfühlt wie die Treue. Ein wenig verstaubt und alles andere als sexy. Die treue ist ein bisschen eine graue Maus unter den Tugenden, nicht so strahlend und heroisch wie der Mut oder so staatstragend wie die Gerechtigkeit. Der Wert der Treue ist aber fundamental und braucht sich im Vergleich zum Mut oder der Gerechtigkeit nicht zu verstecken. Versuchen wir daher, das Wesen der Treue zu erfassen, ohne zu simplifizieren und ohne in banale Schwarzweiß-Muster zu verfallen.

Und wenden wir dabei einen bewährten Trick an: Um sich einer Idee zu nähern, ist es am einfachsten, auszuschließen, was sie nicht ist, oder nicht nur ist. Also mithilfe der Negativdefinition das Feld abzustecken, um so den größten Klippen und Irrwegen zu entgehen. Und davon gibt es bei der Treue viele.

Was ist Treue nicht?

Treue

Das erste und wichtigste Vorurteil, das es auszuräumen gilt, ist, dass sich Treue

  • in erster Linie auf die Partnerschaft und
  • dort besonders auf die Sexualität bezieht.

Im Grunde sind es zwei Vorurteile, die sich hier vereinen. Einerseits bedeutet Treue nicht Ausschließlichkeit, so wie sie gemeinhin verstanden wird. Einem Menschen treu zu sein, bedeutet nicht, keinen anderen Menschen mehr lieben zu dürfen. Und so wie das für unser Zusammenleben gilt, gilt es natürlich auch für unser Innenleben. Einem Gedanken treu zu sein, bedeutet nicht, nur einen Gedanken zu haben, wie es André Comte-Sponville pointiert formuliert hat. Und andererseits bezieht sich Treue nicht in erster Linie auf das Sexualleben. Aber ich denke, das ist klar – oder sollte klar werden, wenn Sie weiterlesen.

Wenn wir schon bei den Negativdefinitionen und einer Abgrenzung sind: Eine wichtige gibt es noch, nämlich die Annahme, dass Treue etwas Passives sei. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man dem ersten Missverständnis erlegen ist. „Ich war treu, ich habe mich nicht verführen lassen.“ Treu ist man also dann, wenn man sich nicht verändert, seine Gewohnheiten beibehält und alles so macht wie bisher. Aber treu bin ich dann höchstens der Nostalgie und der Vergangenheit. Und mit dieser Überlegung nähern wir uns schon einem der zentralen Zusammenhänge: Treue hängt mit dem Faktor Zeit zusammen und bedingt Gedächtnis und ein Sich-Erinnern, ein Ins-Bewusstsein-Holen.

Treue

Zeit und Treue

Ich persönlich habe den Wert der Treue über die Natur kennengelernt, genauer gesagt über die bescheidenen Versuche, einige Bonsai-Bäumchen zu pflegen. Bonsais sehen schön aus und sind für einen Menschen, der in der Stadt lebt, eine Möglichkeit, die Natur in überschaubarem Rahmen in die eigenen vier Wände zu holen. Jedoch haben Bonsais die unangenehme, um nicht zu sagen tückische und perfide Eigenschaft, dass sie Pflege brauchen. Sie wachsen in kleinen Töpfen und brauchen regelmäßig Wasser, sonst ist es vorbei mit der Schönheit. Wenn man einen Bonsai also einmal zehn Jahre gepflegt und am Leben erhalten hat, bedeutet das, Tausende Male an ihn zu denken und ihn zu gießen, ihn Dutzende Male zu düngen und anderweitig zu pflegen. Und mit diesen treuen Anstrengungen hat man noch keinerlei Vorschuss für die Zukunft. Viele Jahre Pflege sind durch eine Woche des Vergessens zunichtegemacht, und wenn ein solches Bäumchen einmal den Jordan überquert hat, hilft auch kein Tauchbad in der vollen Badewanne mehr. Umso bemerkenswerter, wenn es Bonsais gibt, die mehrere Hundert Jahre alt sind. Allein ihr Alter ist ein Beweis für Treue über Generationen von Gärtnern und Gärtnerinnen.

Bonsai

Ich überlasse es Ihrer Fähigkeit des symbolischen Denkens, dieses einfache Beispiel in jene Bereiche zu übertragen, die Ihnen wichtig sind. Für mich hat sich daraus die klare Erkenntnis ergeben, dass Treue über die Zeit hinweg einer der Schlüssel zu Wachstum, Fruchtbarkeit und letztendlich Entwicklung ist. Dort, wo ich treu bin, wo ich nicht vergesse, wo ich Ideen, Entscheidungen und Menschen im Bewusstsein habe, dort entwickelt sich etwas.

So wie ein Bäumchen durch ständige Pflege starke Wurzeln entwickelt, so ist es auch mit den Lebensprojekten, mit den großen Vorhaben auf unserem Weg und auch mit menschlichen Beziehungen.

Treue oder doch Verbohrtheit?

Wenn Sie mit der Lektüre bis hierher gelangt sind, haben Sie schon einen Treue-Bonus erworben. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne wird heute eher in Sekunden als Minuten gemessen, und Sie sind schon ein paar Minuten drangeblieben! Chapeau! Wenn jetzt Ihr Handy klingelt, ist es aber wahrscheinlich vorbei mit der Treue zur Treue, also besser gleich auf lautlos stellen. Aber: Damit stellen Sie sich gegen den Mainstream des Ständig-erreichbar-Seins und der allgegenwärtigen Präsenz der Social Media. Und nehmen Sie diesen kleinen Alltagskonflikt als Widerspiegelung einer wichtigen Frage, die man für sich lösen muss, um sich mit der Treue wohlzufühlen.

Wo ist die Grenze zwischen

  • dem Bewahren des Wertvollen, der Treue zu den eigenen Wurzeln und zum Menschsein einerseits und
  • auf der anderen Seite dem verbohrten Anhaften und Festhalten an einer überholten Vergangenheit?
Treue

Das muss man klar definieren, um durch die Treue nicht in einer Sackgasse zu landen. Ich möchte noch einmal auf den Philosophen Comte-Sponville zurückkommen, der nebenbei bemerkt Philosophie als die Treue zum Denken definiert hat:

„Treue bedeutet die Weigerung, sein Denken ohne gute und stichhaltige Gründe zu ändern.“

André Comte-Sponville (1952- )

Also bis zum Gewinn einer neuen Erkenntnis: sich also weder einem neuen Gedanken zu verschließen, aber in den eigenen Überzeugungen auch nicht unbeständig und beliebig zu sein. die durch eigene Erfahrungen, Reflexion und Erkenntnisse gewonnenen, im Leben überprüften Überzeugungen sind der beste Zugang zur Wahrheit, den wir haben. Und ihnen müssen wir zuallererst treu sein, aber sie werden sich auch von Zeit zu Zeit ändern.

Die gemeinsame Treue

Und Treue hat zudem eine kollektive historische Dimension: Kreuzworträtsel-Löser kennen sie, die römische Göttin der Treue. Sie trägt einen Namen, der aus fünf Buchstaben besteht. Ihr Tempel stand am Kapitol, und der zweite König Roms, Numa Pompilius, soll ihr zu Ehren einen jährlichen Feiertag begangen haben. Dargestellt wird sie als junge Frau, manchmal verschleiert, die als Attribute einen Olivenzweg, ein Füllhorn oder einen hingebungsvollen Hund bei sich hat. Die Rede ist von der Göttin Fides. In ihrem Tempel wurden Staatsverträge unterzeichnet und verwahrt.

Fides

Damit wird die Treue in Beziehung gestellt mit kultureller und historischer Entwicklung. Das in Erinnerung zu haben und nach Möglichkeit zu bewahren, was frühere Generationen für gut befunden oder als Fehler erkannt haben.

Treue und Seele

Im antiken Griechenland gab es den Mythos vom Fluss Lethe. Das ist jener Fluss, den die Seelen aller Menschen überqueren, bevor sie geboren werden. Sie trinken auf ihrer Wanderung auf die Erde aus ihm, und sein Wasser bewirkt ein Vergessen der eigenen Seele, der eigenen unsterblichen Herkunft. In Platons Philosophie spielt diese Idee der Anamnesis eine große Rolle. Alles Wissen, alle Wahrheiten sind in unserer Seele präsent, aber durch den Vorgang der Geburt verdeckt und verschüttet. Der Weg des Menschen ist es, sich zu erinnern, das Vertrauen an die eigene Unterscheidungskraft und unser unsterbliches Wesen zu entwickeln. Dieses Vertrauen ist deswegen berechtigt, da wir in unserer Seele eine Instanz besitzen, die alles Wissen hat, allerdings müssen wir uns den Zugang erkämpfen und erarbeiten. Unsere Aufgabe ist es demnach, eine vertrauensvolle Beziehung zu unserer Seele zu entwickeln, ihr treu zu werden und uns zu erinnern.

„Die Grundlage meines Wesens und meiner Identität liegt in der Treue zum Eid, den ich mir selbst geleistet habe. Ich bin nicht wirklich derselbe wie gestern; ich bin nur derselbe, weil ich mir dasselbe schwöre, weil ich eine bestimmte Vergangenheit als die meine anerkenne, und weil ich vorhabe, auch künftig meine gegenwärtige Verpflichtung als die meine anzuerkennen.“

Michel Eyquem de Montaigne (1533 – 1592)

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 170 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.