Wabi-Sabi

Wabi-Sabi

Die Freude liegt nicht in den Dingen, sondern in uns selbst.

Das, was dem einen Freude bereitet, stimmt den anderen traurig. Zum Beispiel das Ende des Sommers: „Vorbei die warmen Tage, das Draußen-Sitzen, das helle Sonnenlicht, die unbeschwerte Leichtigkeit des Seins“, sagen die einen voller Wehmut. „Endlich Schluss mit der Affenhitze“, jubeln die anderen. Allein dieses einfache Beispiel beweist, dass es nicht die Dinge selbst sind, sondern die Bewertung, die wir ihnen geben.

„Alles Leben ist Schmerz“, lautet die Erste Erhabene Wahrheit, die der Buddha verkündet hat, und meint damit nichts anderes als „Solange wir unser Herz an Vergängliches hängen, solange wir das Erscheinungsbild der Form mit dem Wesen der Dinge verwechseln, solange werden wir Leid erfahren“.
Die japanische Philosophie hat diese Idee in ein ästhetisches Konzept verpackt: Wabi-Sabi.
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Wabi ist, sich einsam und elend fühlen, und Sabi heißt so viel wie alt, gereift sein.
Bei Wabi-Sabi kommt ein völlig neuer Aspekt dazu: nicht das Perfekte, absolut Reine, Makellose berührt uns am meisten. Das alte Gesicht voller Runzeln, jedoch mit strahlenden Augen der Jugend, ist schön. Die windgebeutelte Kiefer, krumm gewachsen, die am steilen Felsen steht, weckt das Gefühl der Erhabenheit.

In den Wäldern drüben, tief unter der Last des Schnees, ist letzte Nacht ein Pflaumenzweig erblüht.

(Altes japanisches Gedicht)
Pflaumenzweig

Die äußere Form ist vergänglich, sie ist in ständigem Wandel begriffen und sie ist nicht perfekt. Die westliche Welt hat einen gewissen Hang zum Perfektionismus entwickelt, der Stress verursacht. Wer Anna Netrebko im Fernsehen gesehen hat, möchte nicht mehr selbst singen. Wer einen Computer bedienen kann, will nicht mehr selbst zeichnen. Von den Fotomodellen wollen wir gar nicht reden. Alle müssen jung, schön, gescheit, reich, dynamisch und gut drauf sein. Für Alter und Krankheit, Schwäche und Verletzungen ist kein Platz.

Kintsugi: den „Makel“ in etwas Kostbares verwandeln

Hier kommt die Technik des Kintsugi ins Spiel. Es ist eine Handwerkstechnik, bei der zerbrochene Keramik wieder zusammengeklebt wird mit einem Lack, der goldenes oder silbernes Puder enthält. Der
„Makel“ soll nicht unsichtbar gemacht werden, sondern wird in etwas Kostbares verwandelt.
Warum mit unseren körperlichen und seelischen Narben nicht genauso verfahren? Sie sind Zeichen eines gelebten Lebens.

  • Wir haben Schwierigkeiten mehr oder weniger gut gemeistert – wir sind hier.
  • Wir sind gereift. Wir stehen nicht mehr ganz gerade, wir sind allerdings auch nicht gebrochen.
  • Wir haben schlimme psychische Verletzungen erlebt, aber wir haben das Lachen nicht verlernt.

Die Schale, die zerbrochen war, wird wieder geklebt – sie ist schöner als je zuvor und sie kann wieder Früchte fassen.

Verbergen wir darum nicht unsere körperlichen oder psychischen Mängel. Es ist nicht notwendig, den Bauch einzuziehen oder die Falten durch Facelifting zu glätten. Wir dürfen unsere Tränen und Ängste zeigen, wenn wir auch unser Glück und unseren Mut miteinander teilen.

Schönheit bedeutet nicht Perfektion.

Das kann sogar sehr steril wirken. Schönheit ist Authentizität. Sabi bedeutet nicht nur alt, sondern auch Gelassenheit und Ruhe, die dem Alter eigen ist. Wabi-Sabi bedeutet, wirklich zu erkennen, dass die Freude in uns liegt. In den einfachen Dingen des Lebens liegt Schönheit und Freude. Warum brauchen wir diese Freude? Damit wir daraus die Kraft schöpfen, die Dinge schließlich auch im Außen schön und gut zu machen.

Mensch mit Tieren

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 172 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.