Engel über Europa – Rilke als Mystiker

Engel über Europa – Rilke als Mystiker

Zur Jahrhundertwende, als die Kräfte des Materialismus und Rationalismus übermächtig wurden, tauchten in Europa schöpferische Seelen auf. Menschen, die eine neue und bessere Welt wollten. Menschen, die nicht nur die Probleme ihrer Zeit beschrieben, sondern auch Lösungen und Veränderungen vorschlugen und die Kraft hatten, diese vorzuleben. Sie waren Pioniere einer neuen Zeit.

Sie brachten die Impulse des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Ideen des Idealismus und der Theosophie, zum Erblühen. Und zwar in allen Bereichen der Kultur, der Philosophie, Religion, Wissenschaft, Politik und vor allem auch der Kunst. Es war die Zeit der Zauberer. Die Zeit weltoffener Europäer und Weltbürger, die Zeit neuer geistiger Konzepte, die Zeit radikaler Lebensentwürfe. Und wie von magischer Hand geführt, haben sich viele dieser großen Seelen gekannt und inspiriert.
Es war die aufregende Zeit von Heisenberg, Einstein, Marc Chagall, Kandinsky, Wagner, Max Weber, Hesse, Freud, Lou Salome, Tolstoi, Rodin, Heidegger, Wittgenstein.
Rainer Maria Rilke war ein Zauberer, Sucher und Finder dieser neuen Zeit.

REZEPTIVE ZARTHEIT – HÖHERES WAHRNEHMEN

Offen sein für die unsichtbare Kräfte

Rilke kultiviert sein Leben lang sein aufnehmendes Wesen. Er macht sich für die äußere Welt unerreichbar, um offen zu sein für die unsichtbaren Kräfte.
Stefan Zweig berichtet von der leisen, geheimnisvollen Unsichtbarkeit, die Rilkes Lebensform ausmacht: „Die Stille wuchs gewissermaßen um ihn, wohin er ging und wo er sich befand. Da er jedem Lärm und sogar seinem Ruhm auswich – dieser „Summe aller Missverständnisse, die sich um seinen Namen sammeln“, wie er einmal so schön sagte –, netzte die eitel anstürmende Woge der Neugier nur seinen Namen und nie seine Person.

Fähigkeit des inneren Empfindens

Rilke war schwer zu erreichen. Er hatte kein Haus, keine Adresse, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wusste im Voraus, wohin er sich wenden würde. Für seine unermesslich sensible und druckempfindliche Seele war jeder starre Entschluss, jedes Planen und jede Ankündigung schon Beschwerung.“
Er war in der Lage, stundenlang vor einer Skulptur zu verharren und die Eindrücke in unvergessliche Gedichte zu fassen. Es gibt Briefe und Tagebucheinträge, die zeigen, dass er aus einfachen Alltagsbegegnungen oder Situationen tiefe innere Erfahrungen und Eindrücke gewonnen hat.
Diese Fähigkeit des inneren Empfindens, Sich-berühren-Lassens und Empfangens hat Rilke zeitlebens kultiviert und weiterentwickelt. Sie war ein wesentlicher Grund für seine schöpferische Kraft.

OKKULTES MÜNCHEN UND DER INNERE WEG

Kandinsky-Tempelgarten

Mut zu dem „Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten“

Rilke kennt bei seiner spirituellen Suche keine Berührungsängste. Er rät einem jungen Dichterkollegen, Mut zu dem „Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten“ zu haben, das einem begegnen kann. Man habe aus Feigheit nicht nur Gott aus dem Leben gedrängt, sondern auch die Geisterwelt, sodass „die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind“. Aber diese Angst vor dem Unaufklärbaren habe nach Rilke alle Beziehungen von Mensch zu Mensch, ja unser ganzes Dasein verarmen lassen.
München, wo Rilke Anfang des 20. Jahrhunderts lebt, ist ein Schmelztiegel verschiedenster spiritueller Strömungen, in den er tief eintaucht.

  • Er und seine Nachbarn, die Maler Paul Klee und Wassily Kandinsky, beschäftigen sich mit Theosophie, fernöstlichen Religionen, heidnischen Naturreligionen und der Mythologie älterer Kulturen. Sie sind fasziniert von den Erkenntnissen der neuen Physik, wonach die materielle Welt aus nicht stofflichen Energiemustern besteht.
  • Franz Marc, auch Mitglied ihrer Gruppe, schreibt, Kunst solle hindurch dringen zu einem geistigen Raum, in dem man die Wirkkräfte des Kosmos annimmt. Paul Klee unterscheidet zwischen einem selbstsüchtigen und einem göttlichen Ich, wobei nur Letzteres wirklich zum Urgrund der Schöpfung vordringen könne.
  • Rilke kommt in Kontakt mit dem Kreis um den Dichter Stefan George, dessen Motto „Geheimes Deutschland“ lautet. Der Dichter sei ein Gefäß der Götter mit einem inneren Priestertum. Dieses Dichterbild wirkt auf Rilke unbeschreiblich ergreifend und bedeutend. Die Menschen um Stefan George faszinieren Rilke, weil sie „nichts erleben, was nicht vom inneren Mythos aus seine Beleuchtung und Deutung empfängt.“

In diesem Kreis lernt Rilke die intuitive Einsicht in Kulte des alten Roms und Griechenlands sowie die Macht von Eros, Rausch, Leidenschaft und Intuition kennen.

EINSAMKEIT UND SPIRITUELLE REISEN

Rilke - Poet

Alleine sein ist wichtig für sein inneres Reifen

Rilke lässt sich nicht vereinnahmen, weder von äußeren Aufgaben noch von Frauen oder Freundschaften. Alleine sein ist wichtig für sein inneres Reifen. Zur Liebe gehört die Einsamkeit. Sie ist das Gesetz des der Kunst geweihten Lebens: Immer wieder zieht er sich zurück; in den letzten Lebensjahren in ein kleines Chalet, wo seine schönsten Werke vollendet werden, die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus.

Am Wege durch die Welt

Zu Rilkes Natur gehört auch unterwegs zu sein, er ist ortlos, immer „am Wege durch die Welt“. Im Kern geht es beim Rückzug und beim Reisen um dasselbe Prinzip, ungreifbar für die äußere Welt und zugleich empfänglich für die Berührungen der Götter und Musen zu sein.

  • Rilke ist auf seinen Reisen ein spirituell Suchender. Suchte er in Spanien und Russland nach archaischen Gottesbildern zwischen Christentum und Heidentum, so durchschritt er während seiner Nordafrikareise ganz andere spirituelle Welten. Den Islam erlebt er kraftvoller und lebendiger als das Christentum.
  • Dann taucht er ein in die Welt des alten Ägyptens. Über den Nil schreibt er, dass dieser Strom ein Schicksal, eine Geburt und einen eigenen Tod habe. Die Wüste beeindruckt ihn sehr, er nennt sie das „Uneinbegriffene“. Fasziniert ist er von den Museumsstücken. Er spürt den dahinterstehenden Geist. Kein Gegenstand hat für ihn irgendeinen Makel. Alles ist atemberaubend schön. Er stellt sich die Frage: „Was war das für eine Kultur gewesen? Woher kam sie und Welcher Geist hat sie zusammengehalten? Was war das für ein Moment der Windstille in der großen ägyptischen Zeit? Welcher Gott hielt den Atem an, damit diese Menschen so zu sich kommen konnten? Wo, plötzlich, stammten sie her? Und wie schloss sich wieder, gleich hinter ihnen, die Zeit, die einem ,Seienden‘ Raum gegeben hatte?!“

Vor den ägyptischen Skulpturen empfindet Rilke ein „Bloßgelegtsein des Geheimnisses, das so durch und durch, so an jeder Stelle geheim ist, dass man es nicht zu verstecken braucht.“

Tiefe Erlebnisse hat Rilke, als er eine Vollmondnacht zu Füßen des Sphinx verbringt: „Ich weiß nicht, ob mir jemals mein Dasein so völlig zum Bewusstsein kam, wie in jenen Nachtstunden, in denen es allen Wert verlor; denn was war es gsegen dies alles?“

DAS SPRACHROHR DER GÖTTER

Rilke - Schloss Duino

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges leidet Rilke unter einer Schreibblockade. Dann erreicht ihn ein Brief, ohne den seine beiden Meisterwerke – die Sonette und die Elegien – nicht entstanden wären. Eine Freundin berichtet ihm über das qualvolle Sterben ihrer 19-jährigen Tochter Wera, einer berühmten Münchner Tänzerin. Rilke hat Wera gekannt und bewundert. Ihr Sterben ist für ihn Schock und gleichzeitig Initiation in den jahrtausendealten Orpheus-Mythos.
Wie ein Lavastrom brechen in wenigen Tagen die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus aus ihm hervor. Er bezeichnet später die Sonette als „das gehorsamste und rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe“.