Ich verzeihe dir!

Hannah Arendt
Lange Zeit spielte das Verzeihen beziehungsweise die Vergebung in der philosophischen Betrachtung eine untergeordnete Rolle.
Eine der ersten, die es ins Rampenlicht gerückt hat, war die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt (geboren 1906 in Linden bei Hannover, gestorben 1975 in New York). In einem ihrer Hauptwerke, dem 1960 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Vita activa“ oder „Vom tätigen Leben“ erhebt sie es in den Rang der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen. In der scharfsinnigen Analyse der menschlichen Tätigkeiten beschreibt Arendt die Pluralität als eine der Grundbedingungen des Menschseins. Die Tatsache, dass trotz der Millionen und Abermillionen Menschen, die unsere Erde bevölkern, es nicht zwei von ihnen gibt, die sich gleichen.
Selbst wenn uns allen gemein ist, dass wir Menschen sind – also was wir sind –, so sind wir doch alle durch unterschiedliche Umstände, Lebensgeschichten, Erfahrungen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste (die Liste ließe sich lange fortsetzen) auf einzigartige Weise geprägt. Sie machen uns zu dem, wer wir sind.
Aus dieser Pluralität ergibt sich der zwischen den Menschen entstehende Begegnungsraum, in dem sich menschliches Miteinander – im Gegensatz zu einem bloßen Nebeneinander – entfalten kann.
Dieser Raum ist es auch, wo der Mensch sich als solcher in Form des Handelns (hier in der Bedeutung Arendts) verwirklicht. Nur dort, wo Menschen wirklich zusammenleben, miteinander handeln und sprechen, können sich die in ihnen angelegten Potenziale entfalten.
Die Unabsehbarkeit
Dieses Handeln trägt in seinem Wesen jedoch zwei Probleme mit sich. Auf der einen Seite setzen wir mit jeder Handlung einen Neuanfang in der gemeinsam gestalteten Geschichte, der als solcher unwiderruflich ist. Das wäre vielleicht nicht so ein großes Problem, wenn es da nicht noch die andere Seite der Medaille des Handelns gäbe: die Unabsehbarkeit.
Denn ganz unabhängig davon, wie genau ich etwas auch durch- und vorausdenke, ihrem Wesen nach tritt jede Handlung eine Art Kettenreaktion los, deren Ausgang dem Akteur in letzter Konsequenz stets verborgen bleibt. Denken wir bloß an all die Situationen, die nach einem anfänglichen Schaden schließlich im Nachhinein zu einem wahren Segen wurden.

Hannah Arendt deutet das berühmte Jesus-Zitat aus dem Lukas-Evangelium in diesem Sinne: „…denn sie wissen nicht, was sie tun“. Damit bringt sie diese Unabsehbarkeit des Handelns zum Ausdruck, mit der wir Menschen Zeit unseres Lebens umgehen müssen.
Und hier kommt das Verzeihen ins Spiel. Es wirkt nämlich wie ein Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit von Handlungen, indem es die bereits in Gang gesetzte Kettenreaktion gleichsam durchbricht.
Dadurch befreit es den Menschen aus der scheinbar endlosen Verstrickung in die Folgen seiner Taten. Ganz anders verhält es sich mit der Rache, die bedauerlicherweise oft mit derselben Absicht – nämlich dem „Tilgen“ der Folgen eines Unrechts – begangen wird, jedoch leider mit dem gegenteiligen Effekt. Der Racheakt bindet in Wirklichkeit an das ursprüngliche Verfehlen und erhält den Teufelskreis dadurch aufrecht.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich noch deutlicher, warum sich Arendt ausgerechnet Jesus von Nazareths Beispiel bedient, um die Fähigkeit des Verzeihens in ihrer Reinform zu illustrieren. Denn er bittet den „allmächtigen Vater“ um Vergebung, der – wie wir aus dem Alten Testament wissen – zu fürchterlicher Rache imstande wäre. Im Bewusstsein, dass Menschen oft „nicht wissen, was sie tun“ und dass der daraus entstehende Teufelskreis aus Schuld und Sühne niemals enden würde, wenn nicht die Kraft des Verzeihens immer wieder neu wirkte.
Klaus-Michael Kodalle
Ein anderer Denker, der sich dieses Themas umfassend angenommen hat, ist der zeitgenössische deutsche Philosoph Klaus-Michael Kodalle (geboren 1943 in Gleiwitz, Oberschlesien). In seinem 2013 veröffentlichen Buch „Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse“ beschwört er einen „Geist der Verzeihung“ herauf.
Dieser ist in seinen Augen unverzichtbarer Bestandteil einer im eigentlichen Sinne des Wortes humanen Gesellschaft. Diese ist nämlich unter anderem geprägt von der im Menschen angelegten Tendenz zum „Bösen“.
Als einer der Ersten griff Immanuel Kant in der Neuzeit diesen Gedanken wieder auf, der sowohl in der Antike als auch im christlichen Mittelalter (man denke an die Erbsünde) eine Rolle spielte. Er nannte diesen „Hang zum Bösen“ beim Menschen sogar „radikal“. Weil er gleichsam im Wesen des Menschen wurzle. Ein Gedanke, den wir leider tagtäglich bei einem Blick in die Nachrichtenmedien bestätigt finden. Kodalle erklärt im Gegenzug nun das Verzeihen als Ausdruck eines „Hangs zum Guten“. Er betont damit die Rolle, die es im menschlichen Miteinander hat.
Die „Gnade des Neunanfangs“
Was mit dem Verzeihen gewährt wird, ist die zauberhafte „Gnade des Neuanfangs“. Denn im Gegensatz zum Opfer, das durch ein erlittenes Vergehen nicht in seiner persönlichen Integrität beeinträchtigt werden kann, wird der Täter durch die Tat, die er aktiv und damit kraft seines eigenen Willens verübte, durch dieselbe bis ins Mark korrumpiert. Der Täter ist also durch seine Tat in seiner Integrität nachhaltig geschädigt und in gewissem Sinne vom Opfer abhängig. Denn nur durch die Kraft des Verzeihens kann seine Integrität wiederhergestellt und damit ein Neuanfang möglich werden. Insofern können wir sagen, dass das Verzeihen gleichsam ein „Schlussstrich“ unter die bisherige „Leidensgeschichte“ zieht und den Weg für einen gemeinsamen Neuanfang ebnet.

Wir sehen hier, welche politische Macht dem Verzeihen innewohnt. Viele mitunter bereits über Jahre schwelende Konflikte unter Menschen unterschiedlicher Religionen oder Ethnien scheinen unauflöslich, wenn da nicht die Kraft des Verzeihens wäre. Doch anstelle des Verzeihens wird oft auf eine Politik der Verhärtung der Fronten gesetzt, indem gegenseitige Verletzungen stetig und unerbittlich wieder in Erinnerung gerufen werden.
„Es schadet nichts, wenn einem Unrecht geschieht. Man muss es nur vergessen können.“
Sich selbst verzeihen
Dies soll einst der chinesische Philosoph Konfuzius (551 – 479 v. Chr.) gesagt haben. Damit erinnert er uns an den letzten Schritt, gleichsam die „Krönung“ des Verzeihens. Haben wir das Erlebnis verarbeitet und die Erfahrung daraus gewonnen und haben wir den ersten Schritt zur Erlösung in Form des Verzeihens getan. So können wir uns von der Last der Erinnerung vollends befreien, indem wir nur die Erfahrung behalten und das Ereignis vergessen. Wozu soll es nützen, die „Verpackung“ der Erinnerung aufzubewahren, wenn wir das Geschenk der Erfahrung bereits in Händen halten?
Was sowohl Kodalle als auch Arendt nicht behandeln, aber häufig als eine wichtige Facette im Thema des Verzeihens erscheint, ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu verzeihen. Dies gilt nicht nur im Falle, dass wir jemand anderem Schaden zugefügt haben, sondern auch, wenn wir uns selbst verletzt haben. Beispielsweise in unserer Würde, da wir unsere Werte verraten haben. Hier können nur wir selbst uns erlösen. Ein Akt, der mitunter ebenso schwierig oder sogar schwieriger ist, als einem anderen Menschen zu verzeihen. Es reicht nicht aus, sich selbst zu verzeihen, wenn man jemanden verletzt hat, um die Harmonie im Zwischenmenschlichen wiederherzustellen. Es ist jedoch ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Bei all dem bisher Gesagten können wir nicht umhin, die große Herausforderung zu sehen, die im Verzeihen steckt. Auch im Alltag sehen wir, wie schwer es oft ist, angefangen bei Kindern, die sich nach einem Streit beim Spiel oft auf Anstoß der Eltern verzeihen sollen, bis hin zu Verletzungen und Kränkungen unter Erwachsenen, die oft jahrelang nicht vergeben werden können.
Gibt es da kein Hilfsmittel, das uns das Verzeihen zumindest erleichtern könnte? Das gibt es:
Die Akt der Wiedergutmachung
Wenngleich wir wissen, dass Worte nicht wieder zurückgenommen und Taten nicht wieder ungeschehen gemacht werden können, so haben wir dennoch immer die Möglichkeit, einen Akt der Wiedergutmachung zu leisten.
Nicht nur, um damit unser eigenes Gewissen zu erleichtern, sondern vor allem, um dem Menschen, den wir verletzt haben, zu zeigen, dass wir Reue empfinden. Dass wir uns der Konsequenzen unserer Handlung bewusst sind und unsere Erfahrung aus dem Fehltritt gezogen haben. Ein aufrichtiges Wort der Anteilnahme oder der Entschuldigung, eine Geste des guten Willens oder der Verbindung. Sie alle können den Weg zum Verzeihen und damit zum gemeinsamen Neuanfang – jedoch um eine wichtige Erfahrung reicher – ebnen.

Auch wenn es von uns Überwindung erfordert: Helfen wir dabei, die Kunst des Verzeihens in unserer Welt zu kultivieren. Damit tun wir nicht nur uns selbst etwas Gutes, sondern machen darüber hinaus das menschliche Miteinander auf diese Weise zu einem „Himmel auf Erden“!
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 178 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.