Stärker als die Liebe?

„Seit es Menschen gibt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut: Das allein, meine Brüder, ist unsere Erbsünde! Und lernen wir besser uns zu freuen, so verlernen wir am besten anderen wehezutun und Wehes auszudenken.“ (Friedrich Nietzsche 1844 – 1900)
Im Zen-Buddhismus gibt es die Idee des Anfängergeistes. Der Anfängergeist ist der wesentliche Grund, dass Kinder oft größere und unbeschwertere Freude empfinden als Erwachsene. Als Flussmetapher gesprochen sind Kinder Meister im Entspringen, während wir Erwachsene immer schon nach dem Münden schielen. Kinder haben zudem die unfassbare Gabe, in jedem Gegenstand, in jedem Tun ein metaphysisches „Mehr“ zu erkennen. Dieses „Mehr“ an Imagination und Fantasie ist das, was man so gerne den Zauber der Kindheit nennt. Wer kann schon einen Holzstiel zu einem Pferd, das alle Gangarten beherrscht, erwecken? Kinder empfinden in all ihrem Tun eine Erfüllung. An ihnen lässt sich unmissverständlich erkennen, dass der Mensch für die Freude geboren ist. Auch in unserer Wahrnehmung sind herumalbernde, ausgelassene oder völlig selbstvergessen spielende Kinder lebendig gewordene Freuden. Obwohl wir als Kinder gar nicht wussten, dass wir so viel Freude in uns trugen, war sie immer da.
Viele Erwachsene haben sie auf ihrer Lebenswegstrecke wohl irgendwann verloren. Das Drama des Erwachsenendaseins ist nicht, dass es uns an etwas mangelt, sondern dass wir es verlernt haben, freudvoll anzunehmen, was sich uns darbietet.

Besinnt man sich dessen und stellt sich als Erwachsener die Frage, was waren und sind die größten Wünsche, die größte Sehnsucht, der größte Telos (Endzweck) im eigenen Leben, dann erkennt man, dass hinter allem die Freude steht und steckt. Sie steckt hinter all unserem Sein.
Sie lugt aus jeder Öffnung, ja, aus jeder noch so kleinen Ritze strahlt sie hervor. Kann man es noch schöner formulieren als Leonard Cohen? „There is a crack, a crack in everything, that ́s where the light gets in.“ Wir haben immer die Wahl zwischen den beiden Grundeinstellungen unseres Seins. Wir können den affirmativen, den lichten und lebensbejahenden Kräften folgen oder uns den resignativen Mächten mit ihren eingetrübten Selbst- und Weltsichten hingeben. Traurig ist nur, wer keine Freude an der Welt hat, an dem hat auch die Welt keine Freude. Bewahren wir uns allerdings in einer Zeit, die durch Erregungswellen geprägt ist und die alles andere als freudvoll erscheint, die Fähigkeit, das eigene Leben durch einen Sonnenstrahl hindurch zu betrachten, bzw. wie Jean Paul meint, die Freude als warme Sonnenseite des Geistes und Leibes zu genießen, dann spüren wir ein tiefes, inneres Wohlsein – sei es in der Natur, im Kreativen, im Gespräch, in der Stille, in der Bewegung, im Loslassen, im Genießen und im einfachen Machen und Sein.
Am Ende all unseres Tuns und Seins, ob wir ein Haus bauen, Beziehungen und Freundschaften knüpfen und pflegen, ein Unternehmen gründen, unseren Passionen nachgehen, am Ende, ja am Ende steht immer ein Gefühl und dieses Gefühl, ist die Freude.

Sie hat auch eine immense endogene Einwirkung. Sie ist tief im Menschen verwurzelt. In der Akzeptanz dessen, was ist. In der Versöhnung im Hier und Jetzt. Durch Stimmigkeit im Einklang mit mir sein. Im Wachsen und Vergehen und letztlich im Annehmen des Lebens in seiner Gesamtheit.