Kairos – Vom Leben im richtigen Augenblick

Kairos-Momente
entstehen auch beim Kunstgenuss, wenn man selbst singt, musiziert, tanzt, malt oder Gemälde betrachtet oder mit ganzer Präsenz Musik hört.
Und im Kontakt mit Menschen haben wir Kairos-Erfahrungen, wenn wir uns ganz auf ihre Sichtweise einlassen. Ihren Gedanken folgen und uns ergreifen lassen – ganz rein, ohne sofort unsere Antwort, unsere Sichtweise parat zu haben.
Kairos-Momente entstehen vor allem auch im Kunstgenuss, wenn man selbst singt, musiziert, tanzt, malt oder Skulpturen oder Gemälde betrachtet oder mit ganzer Präsenz Musik hört. Auch Lesen, Eintauchen in einen guten Roman, Gedichte, philosophische Lektüre etc. holen uns aus dem schnöden Routinebewusstsein heraus.
Sicherlich kennen Sie die Erfahrung des Flow. Wenn man in einer Tätigkeit aufgeht, sei es das Zubereiten einer Mahlzeit, Schreiben eines Artikels, einer handwerklichen Arbeit wie Nähen, Schnitzen, Reparieren eines Holzgegenstands oder einem intensiven philosophischen Gespräch etc. Alle Momente, die uns aus dem Alltagsbewusstsein herausheben in eine Art Ewigkeit oder Dauerhaftigkeit, in eine andere Zeitqualität, wo wir nicht nach einem äußeren Zeitplan funktionieren, bringen uns in Kontakt mit Kairos.
Drei Eigenschaften des Kairos
Joke Hermsen, deren Buch „Kairos – Vom Leben im richtigen Augenblick“ mich zu diesem Artikel inspiriert hat, nennt drei spezifisch menschliche Fähigkeiten, die ihrer Ansicht nach viel mit Kairos zu tun haben und die auch durch seine Attribute in den Darstellungen zu sehen sind.
Kairos-Momente erleben wir, wenn wir mit etwas Höherem in Kontakt kommen, wenn wir uns geborgen fühlen in einem sinnvollen Großen Ganzen.

1) Die schöpferische Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen – Symbol des Messers
… und das Alte hinter sich zu lassen. Deshalb ruht die Waage des Kairos in den Darstellungen oft auf einem Messer, mit dem man die Fesseln der Vergangenheit abschneiden soll. Hannah Arendt bezeichnet das „Prinzip der Natalität“ als eine der kostbarsten Fähigkeiten des Menschen, immer wieder von Neuem zu beginnen. Sie schreibt: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als „Gesetz“ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann.“
2) Die spezifisch menschliche Fähigkeit des Enthusiasmus – Symbol der Flügel
Diese Beseeltheit oder schöpferische Leidenschaft lässt uns in Kontakt mit etwas Höherem treten. Das Wort Enthusiasmus leitet sich ab von „en-theos“ – „im Göttlichen“ sein. Man könnte auch den Begriff des großen SEIN verwenden. Kairos-Momente erleben wir, wenn wir mit etwas Höherem in Kontakt kommen, wenn wir uns geborgen fühlen in einem sinnvollen Großen Ganzen. Wenn wir Mut haben zu Spiritualität, die sich in Dankbarkeit und Hingabe für das Große Eine Leben zeigt. Enthusiasmus verleiht uns Freude und Begeisterung, lässt die Seele fliegen.
3) Die Fähigkeit zu einem ethischen Bewusstsein – Symbol der Waage

Kairos hat viel mit dem rechten Maß zu tun. Hier mit dem rechten moralischen Maß. Ethik steht in engem Zusammenhang mit der Ausübung von Tugenden, die der „rechte Besitz der Seele sind, wie Aristoteles lehrt. Und er erklärt, dass eine Tugend die Mitte zwischen zwei Lastern ist. Z. B. Großzügigkeit ist die Ausgewogenheit des einen Extrems der Verschwendung und dem anderen des Geizes. Einen anderen Aspekt der Ethik im Zusammenleben können wir noch betrachten: Das Abwägen zwischen meinen Bedürfnissen und denen der anderen, zwischen Egoismus und Altruismus.
Ich wünsche Ihnen viele Kairos-Momente, in denen Sie aus dem Getriebe dieser Welt aussteigen und sich der Qualität des günstigen Augenblicks hingeben – für ein neues Zeitempfinden!
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 177 (2024) des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.