Marsilio Ficino
Die erste wird zur Betrachtung der Schönheit des Vollkommenen hingerissen – sie erfasst den göttlichen Schimmer, und die andere fühlt sich dazu getrieben, die erkannte Vollkommenheit in der Welt hervorzubringen.
Calvacanti, Pausanias, VII. Kapitel
Davon kann man ableiten, dass die Seele zwei grundlegende Funktionen hat:
- Die Fähigkeit der Erkenntnis (Venus Urania) als jener Teil in uns, der das Vollkommene liebt, der die Idee der Dinge liebt und sucht. Es ist die Fähigkeit des Erfassens, das mit der Zeit feiner und umfassender wird.
Selbst solche, welche stumpfen Geistes sind, werden scharfsinnig, wenn sie lieben.
Es ist die Liebe dazu, immer mehr den Wesenskern hinter der äußeren Erscheinung wahrzunehmen, – ob es sich dabei um den Wesenskern eines Menschen oder das Mysterium des Lebens selbst handelt.
- Und die Fähigkeit des Zeugungsvermögens (Venus Pandemos). Die Fähigkeit, Ideen in Bewegung zu bringen. Sich und die Welt zu bauen.
In beiden Fällen ist es unser Herz, das aktiv ist:
- Denn, das Vollkommene, die Schönheit hinter den Dingen zu lieben, ist keine Sache des Intellekts.
- Das „Zeugungsvermögen“ – auf schöne Art und Weise schöpferisch tätig zu sein, das „Gute“ zu verwirklichen – braucht zwar den Verstand, kommt aber aus dem Herzen.
Spiritualität, die bei Ficino in diesem Sinne als ständige Bewegung zwischen Himmel und Erde verstanden werden kann, wird also mit dem Herzen erschlossen.
Erlauben Sie mir den ganz persönlichen Schluss, dass es auch viel Herzdenken dazu brauchte, den Mut für eine geistige Revolution in dieser Größenordnung aufzubringen. Genauso aber für die Eleganz, die damals so mächtige Kirche nicht zu brüskieren, sondern sie mit ins Boot zu holen. Nicht über Konfrontation, sondern über Verbindung entfaltete die Renaissance ihre Kraft.
Eros
Weil die Liebenden das, was sie besitzen zum Teil besitzen und zum Teil nicht besitzen, heißt es, die Liebe sei eine Mischung von Mangel und Überfluss.
Eros, der kleine Gehilfe von Aphrodite, wurde bei ihrer Geburt gezeugt, und zwar von Poros, dem Reichtum und Penia, der Armut. Ficino erklärt es auf folgender Weise: Wenn Sokrates am Markt ist und Alkibiades sucht, so kann er dies nur deswegen tun, weil er weiß, wie Alkibiades aussieht – weil er das Bild (gr.: idea á Idee) von Alkibiades kennt.
Genauso verhält es sich mit dem Menschen und der Weisheit: Wir können das Ideal der Weisheit – das Gute, Schöne, Wahre und Gerechte – nur deswegen suchen, weil es im Innersten der Seele schon vorhanden ist und wir unbewusster Weise jene Ideen kennen.
Poros, der Reichtum
Diese Kenntnis, dieser innere Reichtum an Wissen – wenn auch nur latent – wird symbolisiert in Poros, dem Reichtum. Die deutsche Sprache hat hier wenig Ausdrucksmöglichkeiten dafür, aber jedenfalls handelt es sich bei diesem Reichtum nicht um Kopfwissen, sondern mehr um eine Intuition, ein inneres Wissen, das in unserem Herzen wohnt.
Penia, die Armut
Gleichzeitig ist Eros Kind von Penia, der Armut, weil wir die Weisheit eben nicht haben, sondern ihrer entbehren, sie suchen, uns danach sehnen!
Die Sehnsucht nach mehr Vollkommenheit – danach, besser zu sein, als es die Menschheit im Gesamten und jeder Einzelne im Augenblick gerade ist, wird in unserem Herzen geboren. Nicht im Sinne eines Perfektionismus, Neides oder ungesunder Unzufriedenheit – gemeint ist mit Eros die Kraft, die uns verliebt und somit fähiger macht, die uns motiviert, beflügelt und Notwendigkeiten schafft.
Welchen Schluss erlaubt es uns im praktischen Sinne:
Wenn Schönes (Venus) erscheint, wird „Eros“ gezeugt, der Appetit nach mehr, die Kluft zwischen dem, was ist und dem, was möglich ist. Diese Kluft zu spüren ist Motor des Lebens. Dem Schönen insgesamt mehr Wichtigkeit einzuräumen, damit dieser „Appetit“ der Seele angeregt wird – dafür braucht es Kopf und Herz.
Marcilio Ficino
Ficino wurde am 19.10.1433 in Figline in der Nähe von Florenz geboren. Sein Vater war ein namhafter Chirurg, der auch viele Adelige, mächtige und berühmte Persönlichkeiten zu seinen Patienten zählte, unter ihnen die sich gerade im pekuniären und auch sozialen Aufstieg befindende Familie Medici. Cosimo der Ältere, einerseits Fürst der Stadt Florenz, andererseits aber bekannt für seine Liebe zur Philosophie und zur Mystik – mit vielen Kontakten zu den großen Philosophen seiner Zeit -, erkannte in Ficino bereits als Kind so manches Potenzial und begann, als eine Art Mentor für ihn zu sorgen. Der junge Ficino trat in die Fußstapfen sowohl seines leiblichen Vaters als auch seines „geistigen“ Paten Cosimo und studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Pisa und Florenz – zusätzlich noch Griechisch, Musik, Astrologie und Theologie. Er starb am 1.10.1499 in Careggi, heute ein Stadtteil von Florenz.
Literaturhinweis:
- Marsilio Ficino; Über die Liebe oder Platons Gastmahl
- Marsilio Ficino; The letters of Marsilio Ficino
- Giovanni Corsi; Life of Marsilio Ficino (1506)
- Michael Shepherd; Friend to Mankind – Marsilio Ficino, Verlag: London, Shepheard-Walwyn, 1999
- Fernand Schwarz, Isabelle Ohmann; The Spirit of the Renaissance, 2005
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 174 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.