Seneca – zwischen Verbannung und politischer Macht

Seneca – zwischen Verbannung und politischer Macht

Seneca

Lucius Annaeus Seneca (3 v. Chr. – 65 n. Chr.)

„Wir sind alle fehlbar. Was man daher bei anderen tadelt, findet ein jeder in der eigenen Brust. Selbst wenn man doch nichts Böses getan hat, so ist man doch dazu imstande.“

Über Seneca wird berichtet, dass er eine widersprüchliche Persönlichkeit war, die zu einer zweifelhaften Lebensführung neigte. Max Pohlenz beschrieb ihn als problematische Natur, die häufig von konfligierenden Interessen hin- und hergerissen war.
So war es für Seneca schwierig, seinen politischen Ehrgeiz mit den Tugenden der Gerechtigkeit und Mäßigung sowie seine Umtriebigkeit und rhetorische Gewandtheit mit der Ruhe und Hingabe, die ihm seine wissenschaftlichen Studien abverlangten, zu verbinden.
Bertrand Russell porträtierte ihn in seiner „Philosophie des Abendlandes“ als führenden Vertreter des römischen Kapitalismus in Gestalt eines Apostels der Sittenstrenge. So soll er als rechte Hand des Kaisers Nero ein riesiges Vermögen angehäuft haben, das er unter anderem dadurch vermehrte, Geld in Britannien zu dermaßen hohen Zinsen zu verleihen, dass dies dort zum Ausbruch einer Revolte führte.
Von Seneca selbst lesen wir, dass Geld nur ein „Adiaphoron“ sei, also etwas, das keinen Wert an sich darstellt und an dem wir nicht festhalten dürfen. Das galt ihm und allen Vertretern der Stoa übrigens für alle materiellen Güter.

Das einzig entscheidende Gut für einen Stoiker ist die Tugend, das heißt: die rechte Haltung gegenüber allen äußeren Umständen und Gütern.

Wer Seneca jedoch fair beurteilen will, muss sich den Hauptgrund für die verbreiteten Polemiken gegen ihn bewusstmachen. Dazu muss man das Zusammentreffen zweier Sphären der Wirklichkeit berücksichtigen: die Sphäre römischer Machtpolitik und der Ethik.

Als Stoiker hatte er sich an eine strenge Lebensführung zu halten, die ihm Kompromisse verbat.

Brücke

Als römischer Politiker und Staatsmann war er jedoch gezwungen, im Interesse des politischen Überlebens (vor allem als rechte Hand des späteren Kaisers Nero) Kompromisse einzugehen, die nicht ohne Weiteres mit der stoischen Ethik vereinbar waren. Seneca schrieb diesbezüglich:

„Der Weise wird auch was er nicht billigt, tun, um zu Höherem den Übergang zu finden, und er wird seine guten Sitten zwar nicht aufgeben, aber der Zeit anpassen; und die Dinge, die anderen zum Ruhm oder zum Vergnügen dienen, wird er zum praktischen Handeln gebrauchen“.

Hinter dieser Bemerkung Senecas steckt das redliche und ernsthafte Bemühen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und sich zu diesem Zweck zwar zu engagieren, allerdings auch anpassen zu müssen. Unstimmigkeiten seiner Lebensführung bleiben jedoch als ein Makel bestehen, der ihm in der Nachwelt so manche üble Nachrede bescherte. Wie ambivalent Senecas Verhältnis zum Ideal der rechten Lebensführung war, wird an einem weiteren Umstand erkennbar, der mit der Anwendung der Rhetorik zu tun hat.

Sokrates

Das große Vorbild der Stoiker, nämlich Sokrates, führte mithilfe seines Schülers Platon einen erbitterten Kampf gegen die Sophistik, das heißt, gegen den Missbrauch der Rhetorik zur Durchsetzung beliebiger Interessen. Seneca hatte jedoch auch hier einen pragmatischen Zugang zur Sache, denn als „homo novus“ musste er in Rom zunächst mächtige Freunde und Verbündete gewinnen, um in der Politik aufzusteigen. Dazu dienten ihm öffentliche Gerichtsprozesse, bei denen der Sieg (egal, ob nun für oder gegen den Angeklagten) für die eigene Karriere als Sprungbrett diente.

Daneben gehörte Seneca zu den spitzzüngigsten Autoren seiner Zeit, der die vorherrschenden Missstände geißelte, jedoch dann auch wieder akzeptierte – wie etwa den übertriebenen Tafelluxus der Reichen. Seneca selbst schlief angeblich bis zu seinem Lebensende auf einer harten Matratze und fastete regelmäßig. Es ist also nicht leicht, sich ein Urteil über ihn zu bilden.

Wer ihn als reinen Moralisten, jenseits von Pragmatismus und Kompromissen kennenlernen will, muss sich jenen Werken widmen, die er in der Zeit seines Exils auf Korsika schrieb. Seneca zog einst den Zorn Messalinas, der ersten Frau des Kaisers Claudius, auf sich. Daraufhin verbannte ihn Claudius 41 n. Chr. nach Korsika, das zur damaligen Zeit als zivilisationsfernes Outback mit einem höchst unwirtlichen Klima galt. Dort verbrachte er acht Jahre seines Lebens unschuldig im Nirgendwo, unwissend, ob er jemals zurückkehren dürfte. Doch gerade hier begann er schließlich, seine stoischen Überzeugungen zu vertiefen und Werke zu verfassen, die ihn in Rom berühmt machten und ihm sogar die Rückkehr ermöglichten.

Seneca

Denn es war Agrippina, die zweite Ehefrau des Kaisers Claudius, die ihn nach Rom zurückholte und wegen seiner herausragend beschriebenen Ideale der Erziehung des Menschen zur Freiheit mit der Erziehung ihres Sohnes Nero beauftragte. Nach Claudius Tod wurde Agrippina zur mächtigsten Frau des Reichs und Nero später zum neuen Kaiser.
Senecas Reaktion war paradigmatisch für seine ganze Lebensweise: Er ließ den jungen Nero mit gerade einmal 17 Jahren die Grabrede für Claudius halten, die Seneca selbst verfasste. Darin wird Claudius als weitsichtiger, mit göttlicher Weisheit begnadeter Herrscher verehrt, während jeder, der Claudius kannte, sich dabei nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. In Wirklichkeit hatte Seneca für Claudius nur Spott übrig, obwohl er ihn in den Jahren zuvor mehrmals in Briefen um Begnadigung gebeten hatte.

Die letzten 15 Jahre seines Lebens verfügte Seneca über eine ungeheure politische Macht, bis er schließlich einer Verschwörung gegen Nero bezichtigt und zum Selbstmord gezwungen wurde. Seneca nahm sich das Leben, indem er sich die Adern aufschnitt, wobei er auf eine bewusst dramatische Inszenierung achtete. Laut Russell befahl er dabei seinen Sekretäre seine letzten Worte aufzuzeichnen, womit diese ein letztes Mal Zeugen seiner ungeheuren Gelehrsamkeit wurden. Seine letzten Worte waren angeblich:

„Der Tag, den du für den letzten hältst, ist der erste Tag der Ewigkeit“

Literaturhinweis:
POHLENZ, Max: 1992. Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 7.Auflage. Göttingen: Vandenhoeck&Ru-precht
GIEBEL, Marion: 2009. Seneca. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien 50575)
RUSSELL, Bertrand: 2004: Philosophie des Abendlandes. Aus dem Englischen von Elisabeth Fischer-Wernecke. München: Piper

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 158 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.

 

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