Gleichheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit

Gleichheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit

Gerechtigkeit

Bei der Gerechtigkeit geht es darum, wie die Individuen ihre Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung in der Gesellschaft aus der Eigensicht angesichts ihrer eigenen gesellschaftlichen Interaktionen beurteilen und empfinden. Die Gerechtigkeit ist somit ein Produkt von komplexer und umfassender gesellschaftlicher Beobachtung und Analyse, die mit dem Wertesystem des Individuums überlagert und gefiltert wird. Umso erstaunlicher, dass diese Beurteilung zu einem großen Teil unbewusst abläuft.

Die Gerechtigkeit wird durch das Wertesystem des Individuums gefiltert und ist von seiner Sozialisierung abhängig.

Das bedeutet, dass die Gerechtigkeit dynamisch und abhängig vom gesellschaftlichen Fortschritt ist. Sie ist zum Teil ein Erziehungsprodukt und ein Abbild eines gesellschaftlichen Konsenses. Bei der Bewertung der eigenen Selbstentfaltung im Rahmen der Gesellschaft geht es an erster Stelle um den Zugang des Individuums zu gesellschaftlichen Aktivitäten und seine Partizipation daran. Deswegen ist die Gleichberechtigung eine fundamentale Voraussetzung für die Gerechtigkeit. In einer Gesellschaft ohne Gleichberechtigung kann Gerechtigkeit nicht existieren.

Gesellschaftliche Durchlässigkeit, Transparenz, Akzeptanz

Ein großes Thema sind die gesellschaftlichen Verflechtungen und ihre Wechselwirkung mit dem Individuum. Es stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft und die sozialen Netzwerke, die darin existieren, den Individuen Möglichkeiten bieten, sich in diesem Geflecht zu entfalten. Die sind gesellschaftliche Durchlässigkeit, Transparenz und Akzeptanz.

  • Die Transparenz beschreibt den Grad, in dem das Individuum die Absichten der restlichen Individuen abschätzen und die Entscheidungen der gesellschaftlichen Institutionen nachvollziehen und beeinflussen kann. Transparenz ist sehr wichtig für die Gerechtigkeit, indem sie die Beurteilung der gesellschaftlichen Wechselwirkungen aus dem Blickwinkel der dritten Person erlaubt und den restlichen Mitgliedern eine Bewertung des Verhaltens ermöglicht. Sie ist besonders dann wichtig, wenn es um den Umgang mit Macht und Gestaltungsbefugnis in den öffentlichen Ämtern und Institutionen geht. In diesem Fall ermöglicht Transparenz die Beurteilung, ob sich die Amtsträger im Sinne des gesellschaftlichen Interesses verhalten oder sie sich auf dessen Kosten selbst begünstigen, was die Entfaltung der restlichen Individuen einschränkt. Transparenz ermöglicht den Individuen, ihre eigenen Absichten in die Öffentlichkeit zu tragen und sie mit den anderen zu teilen. Sie erlaubt langfristige Planung durch bessere Bewertung der Lage und steigert das Gefühl der Individuen, ihr Leben selbst gestalten und führen zu können, was wiederum eine elementare Voraussetzung für Gerechtigkeit ist.
  • Die Durchlässigkeit der Gesellschaft bezeichnet die Möglichkeit der Individuen, sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppen eingliedern zu können. Sie bezieht sich auf ihre Aktivitäten in der Gesellschaft und die Möglichkeit, diese autonom zu vollziehen. Die Durchlässigkeit ermöglicht den Individuen, ihren Bestrebungen nachzugehen, und ist somit für die Selbstentfaltung essenziell. In den westlichen Demokratien ist die Durchlässigkeit de jure vorhanden, jedoch wird sie de facto untergraben. Ein ganz banaler Grund dafür sind die gesetzlichen Regulierungen, die den Zugang zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten einschränken. Diese Hürden sind es, die das Gefühl für Ungerechtigkeit wecken. Überall dort, wo die Freiheit beschränkt ist, entsteht das Gefühl von Ungerechtigkeit. Neben den expliziten gesellschaftlichen Regeln gibt es implizite unsichtbare Barrieren, die die gesellschaftliche Durchlässigkeit reduzieren.

Hier wird die Gleichberechtigung direkt angesprochen. Implizite gesellschaftliche Regeln und Verhaltensmuster wirken gegen die Gleichberechtigung und erzeugen das Gefühl von Ungerechtigkeit.

Beispiel dafür sind die persönlichen Beziehungsnetzwerke, wodurch die gesellschaftliche Durchlässigkeit beeinträchtigt wird. Individuen, deren soziale Netzwerke unterentwickelt sind, haben eine signifikant eingeschränkte soziale Mobilität.

  • Das Gleiche gilt für Zugewanderte, die ihre sozialen Netzwerke erst aufbauen müssen. Geschlossene gesellschaftliche Gruppen wie Berufsgilden, Kasten, Schichten und Vergleichbares sind gesellschaftliche Barrieren, die den Weg der Durchlässigkeit blockieren oder zumindest behindern. Die implizite Abgrenzung schafft gesellschaftlichen Ausschluss und Isolation, die sich direkt in einem Empfinden der Ungerechtigkeit niederschlägt. Die gesellschaftliche Durchlässigkeit spielt sich auf der Ebene des menschlichen Verhaltens ab und ist somit nicht objektivierbar. Dadurch ist es sehr schwierig und ineffizient, dagegen mit gesellschaftlichen Regeln vorzugehen. Sehr viel effektivere Maßnahmen zur Erhöhung der Durchlässigkeit in der Gesellschaft sind die Erziehung der Menschen, die Einhaltung hoher ethischer Standards und die Überwindung der eigenen Vorurteile.
  • Akzeptanz beschreibt die Anerkennung des Seins und der Persönlichkeit des Individuums und seiner Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Sie schafft Identifikation und ermöglicht eine vollwertige bidirektionale Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Individuum wird Teil eines größeren Ganzen, wo es seinen unikalen Platz hat. Deshalb ist Akzeptanz eine unabdingbare Voraussetzung für Gerechtigkeit.
  • Die Gesellschaften der Gegenwart stehen durch ihre lokalen, nationalen und supranationalen Bürgerrechte einer weltumfassenden Akzeptanz im Weg. Sie ziehen unsichtbare Trennlinien zwischen den Menschen mit Begriffen wie Bürgerrecht, Duldungsrecht, Asylrecht, Aufenthaltsrecht, Visum, Nationalität und dergleichen. In einer humanistisch liberalen Gesellschaft sind diese Exklusionsbegriffe inexistent.
  • Das Individuum ist Teil einer echten globalen Gesellschaft, in deren Kern das Weltbürgerrecht verankert ist. So sind globale Akzeptanz, globale Zugehörigkeit und globale Identifikation möglich. Folglich kann auch eine globale gesellschaftliche Kohäsion existieren, die eine globale Gerechtigkeit ermöglicht.

Gleichheit zwischen den Individuen ist unmöglich und demnach auch nicht anstrebenswert. Jedoch ist eine viel zu starke Ungleichheit für eine Gleichberechtigung kontraproduktiv. Deswegen wird Ungleichheit als Ungerechtigkeit empfunden.

Gleichberechtigung ist die elementare Voraussetzung für Gerechtigkeit und somit das Fundament, auf dem eine gerechte Gesellschaft aufgebaut wird.

Gerechtigkeit ist subjektiv und spiegelt die gegenseitige Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft wider. Deswegen ist eine vollkommene Gerechtigkeit nicht erreichbar und bleibt nur ein imaginäres Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung.

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 154 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.