Stärker als die Liebe?

Je mehr Freude auf diese Weise entsteht, umso weniger ist man auf äußeres Glück angewiesen. Sie ist also die Fähigkeit, mit allen Lebensumständen zurechtzukommen, ja ihnen etwas Verheißungsvolles abzugewinnen. All das gelingt, weil sie anders als das Glück bedingungslos ist. Sie verlangt keine Voraussetzung denn sie ist etwas Ureigenes und sie ist ein Urmotiv des Seins.
„Sie steckt nicht in den Dingen, sondern im Innersten unserer Seele.“ (Therese von Lisieux; auch Theresia vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz). Wir kommen aus der Freude und sind in ihr und durch sie bestimmt. Denn sie ist eine Grundhaltung, eine Grundbefindlichkeit aus unseren tiefsten Tiefen. Nur die Angst kommt ihr an Archaik, Tiefe und Wirkmacht gleich.

Sie ist der mächtige Gegenspieler der Freude. Darum will die Freude weder trösten noch Mitgefühl spenden, nein, Freude will bestärken. Sie ist die Kraft, die standhält und sie ist von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Gute schafft. Gleichsam ist sie das Bollwerk, die Wagenburg gegen das breitgefächerte Oeuvre der Angst. Gegen all die Gemeinheiten, Brüche, Krisen, Demütigungen, Niederlagen, Schwächen, Fehler, Zurückweisungen und alle anderen Blessuren, die uns das Leben schlägt. Sie alle in ein befriedetes Verhältnis zu setzen, das kann nur die Freude. Die Freude wird dabei unterstützt von ihren drei befreundeten, renommierten Coautoren unserer Lebensgeschichte: der heiteren Gelassenheit, der Seelenruhe und der Besonnenheit.
Vielleicht ist die Fähigkeit zur Freude von allen das schönste Geschenk an uns Menschen. Allerdings ein Geschenk, das man sich verdienen muss. Sie ist ein Ausdruck von Aktivität, eine Überwindungsprämie für unser Tun und eine dauerhafte Übung. Diese Antriebsfedern dienen dazu, dem Leben einen Sinn, eine Grundausrichtung, eine Sorglosigkeitserfahrung und eine freudvolle Fassung zu geben.
Lebensfreude bedeutet nichts anderes, als bei sich selbst gerne zu Hause zu sein. In diesem Haus des Seins und der Lebensfreude lauten die Räume: Lachen, Humor, Lebendigkeit, Leichtigkeit, Zufriedenheit und Begeisterung. Zum Interieur jedes Geborgenheitsraumes gehören: körperliche Tätigkeiten – Sport, Sex, Schlaf; geistige Tätigkeiten: lesen, meditieren, schreiben, musizieren, versinken; soziales Miteinander: Familie, Freunde, Vereine, Kollegen und die persönliche Hommage an das Leben aus: Neugier, Staunen Sinn und Sehnsucht – epikureisch gesprochen – die verfeinerten Entzückungen des Geistes.

Um all dies zu gewährleisten und zu bewahren, müssen wir uns stets und stets aufs Neue die Fragen stellen: Sind all die übersteigerten Erwartungshaltungen, der zwanghafte Perfektionismus und der Kontrollwahn, diese Antipoden meiner Lebensfreude, suspendiert?
Wird meine Lebensfreude von Gründen, Zwecken und einer schalen Abfolge von Bedürfnissen kompromittiert?
Ist der Anfang aller Unzufriedenheit, die moralische Höllenmaschine, die das Leben und jede Lebensfreude verwüstet – der Vergleich –, ob historisch, mit mir selbst oder mit anderen, im Keim erstickt?
Lebensfreude ist ein Maßanzug. Bin ich unglücklich, weil ich stets die Anzüge anderer trage? Welche Menschen, Aktivitäten, Um- und Gegenstände sind für meine nachhaltige Lebensfreude dienlich, weil sie Gefühle wie Bereicherung, Heiterkeit, Ergriffenheit und Zufriedenheit in mir erzeugen? Erlaube ich meinem Geist, stets in die Vergangenheit und Zukunft abzuschweifen und damit zwischen Ballast und Chimäre zu changieren?
Ist die Freude nur ein sporadischer Gast in meinem Leben oder schaffe ich es, sie auf Dauer zu stellen, sie zur Lebensfreude zu erheben?

Siebe ich mein Leben durch dieses siebenteilige kathartische Frageraster, dann wird es ganz einfach. Dann erkenne ich, es bleibt als alles belebendes Kondensat nur die Lebensfreude – die Freude am Leben. Es geht letztlich nur darum zu leben, zu lieben, zu sein und Freude zu empfinden. Sie ist der Zentralschlüssel für unseren Weltzugang. Ein ganz und gar positiver innerer Gemütszustand, reichend von überbordender Energie bis zur tiefen Geborgenheit, von innerer Ruhe und Frieden bis hin zur Ekstase.
Freude ist gleichermaßen beruhigend, entspannend, seligmachend, belebend, ausgelassen, festlich und überschwänglich. Durch diese enorme Spannweite ist die Freude allumfassend. Sie ist der unerschütterliche Glaube, das eigene Sein, das eigene Werden und das eigene Glück selbst in der Hand zu haben. Glück und Freude stellen sich nicht nur bei den Tüchtigen ein, sondern vor allem bei den Freudvollen. Durch die Freude bleiben wir bis zum letzten Atemzug ein Abenteurer des Geistes, des Gefühls und des Gelingens.

Zum Schluss ist die nicht ganz einfach zu beantwortende Eingangsfrage noch offen. Ist die Freude stärker als die Liebe? Kann man ohne Freude lieben? Kann man Menschen lieben, ohne ihre Freude zu lieben? Was man auch Großes im Leben erreicht hat, gibt es Schöneres und Besseres auf dieser Welt als zu lieben und den Mitmenschen eine Freude zu machen? Nun, Fragen sind immer hilfreich, aber leider keine Antworten.
Darum eine kleine Hilfestellung vom italienischen Kirchenlehrer Thomas von Aquin:
Liebe und Freude, die im eigentlichen Sinne auch in Gott sich finden, sind der Urgrund aller Willenszuwendungen, die Liebe in der Weise des Bewegens, Freude aber in der Weise des Zieles.
Die Liebe ist der Antrieb, das Gefährt unseres Lebens. Die Freude ist das Ziel, sie wartet immer und an jedem Ende auf das Gefährt, auf uns.
Liebe und Freude sind Dioskuren. Sie bedingen einander. Sie sind nicht ohneeinander zu denken – sie fallen in Eins.
Dieser Artikel wurde in der Ausgabe Nr. 178 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht.