Auf den Spuren Viktor Frankls

Auf den Spuren Viktor Frankls

Die Frage nach dem Sinn

Es ist wichtig, sich die Frage nach dem Sinn im Leben zu stellen – ein Ausdruck geistiger Mündigkeit –, sich zu weigern, „vorgekaute“ und oberflächliche Meinungen zu übernehmen. Die Frage nach dem Sinn im eigenen Leben taucht jedoch nicht nur in der Überflussgesellschaft auf, sondern auch gerade dann, wenn es dem Menschen schlecht geht. Dabei lehnte Frankl jenes von Maslow gezeichnete Bild ab, der den „Willen zum Sinn“ zu den höheren Bedürfnissen rechnet, die erst dann tragend werden, wenn die niederen Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung usw.) befriedigt sind. Gerade in den Konzentrationslagern machte Frankl die Erfahrung, dass sich in Zeiten höchster Not die Frage nach einem Sinn im Leben am dringendsten stellt.
In den Lagern war zu beobachten, dass nur diejenigen fähig waren, die unglaublichen Torturen zu überleben, die selbst in diesem unermesslichen Leid noch einen Sinn sehen konnten. Oder wie Nietzsche schreibt:

„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Wieso fällt es dem Menschen jedoch so schwer, sein Leben wirklich und wahrhaftig mit Sinn zu erfüllen? Einerseits machte Frankl dafür die Gesellschaft verantwortlich, die das fundamentalste Bedürfnis des Menschen – die Antwort nach dem Sinn – nicht befriedigen kann oder will.
Die materialistisch-nihilistische Wissenschaft reduziert den Menschen auf die Ebene eines „Bio-Roboters“ und raubt ihm damit nicht nur jegliche spirituelle Komponente, sondern auch die Möglichkeit, sein Leben einem überzeitlichen Sinn zu widmen. Die Gesellschaft vermittelt dem Einzelnen keine Werte mehr.
Frankl sah den Menschen eingespannt zwischen Himmel und Erde. Er ist kein Tier, dem dessen Instinkte genau sagen, was es tun soll. Aber er hat heutzutage auch keine Tradition mehr, die ihm Halt und Richtung in seinem Leben geben könnte. So ist der Mensch dazu aufgerufen – was ja gleichzeitig seine große Chance darstellt –, sich eigenverantwortlich auf die Suche zu begeben.

Hierbei eröffnen sich ihm, laut Frankl, drei „Hauptstraßen“ zum Sinn.

Sinn können wir erstens finden, indem wir aktiv schaffen.

Das bedeutet, nicht nur für sich zu leben, sondern sich auch in die Gesellschaft einzubringen, der man angehört. Wenn der Mensch nur sich selbst wahrnimmt und für sich selbst lebt, dann wird er krank. Die viele Freizeit, die der Mensch in einer Überflussgesellschaft genießen darf, ist nicht nur eine Chance, sondern bedeutet vor allem auch Verantwortung. So forderte Frankl auf: „Tatsächlich ist die Freiheit die halbe Wahrheit. Freisein ist der negative Aspekt eines Phänomens, dessen positiver Aspekt Verantwortlichsein heißt. Freiheit schlägt in Willkür um, wenn sie nicht im Sinne von Verantwortlichkeit gelebt wird. Und das ist auch der Grund, warum ich zu plädieren pflege, dass zur Freiheitsstatue an der Ostküste das Pendant errichtet werde, nämlich eine Statue der Verantwortlichkeit an der Westküste.“ (Ausschnitt aus einem Vortrag Frankls vom 6. Januar 1970 an der Loyola Universität von Chicago anlässlich der Verleihung eines Ehrendoktorats)