Auf den Spuren Viktor Frankls
Die zweite dieser Straßen ist das Erleben.
Dabei ging Frankl aber über das rein sinnlich Genusshafte hinaus und postulierte als höchste Form des Erlebens: das Lieben. Auch beim Lieben geht der Mensch über sich selbst hinaus, überwindet seine Egoismen und seine Egozentrik und ist bereit, für einen anderen da zu sein, diesen in dessen Einzigartigkeit zu erfahren und die eigenen Bedürfnisse im Zweisein vom Ich auf eine höhere Ebene des „Wir“ zu erheben. Frankl nannte dieses Phänomen die „Selbsttranszendenz menschlicher Existenz.“ Hierzu schrieb er: „Darunter verstehe ich den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder jemanden […]
Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache – oder in der Liebe zu einer anderen Person.“ (Aus „Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie“, 1973)
An dritter Stelle berührte Frankl das Thema des menschlichen Leids.
Denn auch oder gerade in Situationen, in denen der Mensch weder aktiv schaffen noch erleben kann, in denen er mit Dingen konfrontiert wird, die ihn ohnmächtig werden lassen angesichts der Wucht und Erschütterung des Schicksals, muss er sich aufmachen, den Sinn des Leides zu ergründen. Dieser Sinn wird einem vom Leben aber nicht einfach so zugetragen, sondern er muss dem Leben „abgerungen“ werden.
Der Mensch muss die Forderung jeder Stunde verinnerlichen, erkennen, dass er zwar nicht frei von Bedingungen ist, aber frei, dazu Stellung zu nehmen. Warum ist eine Situation für einen Menschen eine Katastrophe, während ein anderer dieselbe Situation ganz gelassen sieht? Weil die innere Einstellung dazu eine andere ist. Wir schaffen uns in jedem Moment unsere eigene Wirklichkeit, nicht die Umstände zwingen uns, sondern unsere Sicht der Dinge gibt vor, ob wir in einer selbst geschaffenen Hölle leben oder in einem Paradies.
Ein Beispiel aus der Praxis von Frankl soll verdeutlichen, wie eine Änderung der Einstellung alles verwandeln kann: Ein Bekannter kam zu ihm, völlig zerstört und fertig mit der Welt, weil seine Frau gestorben war. Er hatte keine Lust mehr zu leben und konnte an nichts mehr Freude gewinnen. Frankl stellte ihm folgende Frage: „Was wäre geschehen, wenn nicht deine Frau, sondern du zuerst gestorben wärst?“ Der Mann antwortete: „Nicht auszudenken! Sie wäre daran zerbrochen.“
Darauf Viktor Frankl: „Siehst du, gerade das hast du ihr dadurch erspart, indem du sie überlebt hast.“ So war der Mann in der Lage, sein Leid als ein Opfer zu sehen, vor dem er seine geliebte Frau somit bewahrt hatte. Durch die Kraft dieses tiefen Sinns war er wieder in der Lage, das Leben anzunehmen.
Deshalb ist der Einzelne dazu aufgerufen, sich auf die Suche nach dem Sinn in seinem Leben zu begeben. Das bedeutet zu erkennen, dass nicht wir uns fragen müssen, was wir denn noch vom Leben zu erwarten hätten, sondern vielmehr, was das Leben denn von uns erwartet.