Der lange Weg zum Nichts

Ausgangspunkt und Endpunkt unseres Daseins ist die Leere. Daher spielt sie in den philosophischen Systemen und Religionen eine zentrale Rolle. Doch wie gelangt man dorthin?
Die spirituelle Erfahrung der Leere, meist als das All-Eine, die So-heit aller Phänomene oder die Erleuchtung bezeichnet, die ultimative Religio, die Rückverbindung mit Gott in Trance oder Ekstase, hat auch in der christlichen und islamischen Mystik ihren Platz.
Öffne den Geist
„Der Geist soll sich, soweit er kann, ausdehnen zu der Erhabenheit der Mysterien – nicht die Mysterien dürfen zu der Beschränktheit des Geistes herabgezogen werden.” Francis Bacon
Innere Erfahrungen, Erleuchtungszustände und Einsichten entstehen durch Aufbrechen bestehender, verhärteter Denkmuster und -strukturen. In verschieden Religionen, Mysterienkulten oder Meditationstechniken wird das Denken an seine Grenze geführt bis zu dem Moment, wo man nicht mehr folgen kann. Dies lässt sich mit einem Wasserskifahrer vergleichen, der von einem Boot über einen See gezogen wird: Plötzlich reißt das Seil und er versinkt im See. In diesem Moment erfährt er eine neue Dimension, die Dreidimensionalität des Sees, der bislang für ihn nur eine Oberfläche hatte und dadurch zweidimensional erschien. Man muss an die inneren Grenzen gehen und so das einengende Denken transformieren.
Der archetypische Wunsch des Menschen nach dem Überwinden jener Grenzen zeigt sich in folgendem Satz des amerikanischen Schriftstellers und Humanisten Kurt Vonnegut: „Ich möchte so weit wie möglich an die Grenze ohne hinüberzukippen, denn von dort kann ich alles sehen, was vom Zentrum aus nicht sichtbar ist.“

Ein Fisch im Meer oder das leere Haus
Spirituelle Erkenntnis ist in uns und um uns, gibt sich aber nicht zu erkennen. Man muss sich das so vorstellen wie einen Fisch im Meer, der das Wasser sucht und Meile um Meile suchend schwimmt. In seinem Denkmuster kann er nicht verstehen, dass das Wasser in ihm und um ihn herum gleichzeitig ist und dass er sich darin bewegt.
Die Literatur beschreibt, dass die Erfahrung der Leere einen Menschen grundlegend verändert. „Nichts wird danach sein, wie es vorher war.“ Eine der bekanntesten Beschreibungen des Erleuchtungserlebnisses findet sich in Hesses „Siddhartha“, einer romanartigen Darstellung des Lebenslaufes von Buddha. Bildreich beschreibt der Dichter, wie die Barriere zwischen Bewusstem und Unbewusstem aufbricht, nachhaltig durchlässig wird, Zeit und Raum zerfließen und im selben Zuge eine endgültige Versöhnung des Siddhartha mit der Welt stattfindet.
Nur wenigen ist es gegeben, ihr Ego zu überwinden und in diesen Zustand der Erleuchtung, der Leere des Bewusstseins, einzutreten und endgültig zu erwachen. Nicht umsonst wird Buddha auch als „Der Erwachte“ bezeichnet.
Im Koran heißt es:
„Schade, dass die Menschen dazu neigen, nicht aufzuwachen, ehe sie sterben“.
Den fortgeschrittenen Geist kann man sich wie ein leeres Gebäude vorstellen, welches durch Meditation mit Inhalten gefüllt wird, die aus dem Ursprung des Seins-an-sich kommen. Durch die treibende Kraft der immer wiederholten spirituellen Übungen erlöschen dann aber auch diese Bilder und Inhalte, zerfließen diese in ihren Ursprung. Dies ermöglicht reine, klare Erkenntnis.

Der Weg, der kein Weg ist
Ein Problem der meisten ziel- und erleuchtungsorientieren Lehrgebäude ist, dass ein Weg dorthin skizziert wird, der irgendwo auf einer Zeitlinie liegt. Ein Weg in eine vorstellbare Zukunft, in einem Zeitraum, mit einem Ziel, der damit aber eigentlich alles beinhaltet, was die Erfahrung des Erleuchtungsbewusstseins verhindert.
Der Taoismus zeigt in seinen geheimsten Lehren einen anderen Weg auf, einen kreisförmigen, wo das Bewusstsein in sich selbst in seinen ursprünglichen Zustand offener Achtsamkeit zurückgeführt wird. Deshalb eignet sich dieses System besonders gut für eine Erklärung des Weges in die innere Leere.
Der Weg beschreibt den Schöpfungsprozess des Menschen. Beginnend mit dem Zustand des Ungeborenen: dem Tao, dem Zustand des „Seins-an-sich, formlos, geruchlos, farblos und geschmacklos, verdichtet sich dieses Nichts in eine Möglichkeit. Es entsteht ein Punkt zwischen Existenz und Nichtexistenz, an welchem die Möglichkeit, das Potenzial zu Existenz, aus dem Nichts als Wahrscheinlichkeit hervorbricht. Die Vergangenheit ist gegeben. Die Zukunft erträumen wir nach unserem Herzen. In der Gegenwart eröffnet sich ein unendlicher Möglichkeitsraum …“